Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-206]

Im Verhältnisse zu einem Genie, das heisst zu einem Wesen,...

Im Verhältnisse zu einem Genie, das heisst zu einem Wesen, welches entweder zeugt oder gebiert, beide Worte in ihrem höchsten Umfange genommen —, hat der Gelehrte, der wissenschaftliche Durchschnittsmensch immer etwas von der alten Jungfer: denn er versteht sich gleich dieser nicht auf die zwei werthvollsten Verrichtungen des Menschen. In der That, man gesteht ihnen Beiden, den Gelehrten und den alten Jungfern, gleichsam zur Entschädigung die Achtbarkeit zu — man unterstreicht in diesen Fällen die Achtbarkeit — und hat noch an dem Zwange dieses Zugeständnisses den gleichen Beisatz von Verdruss. Sehen wir genauer zu: was ist der wissenschaftliche Mensch? Zunächst eine unvornehme Art Mensch, mit den Tugenden einer unvornehmen, das heisst nicht herrschenden, nicht autoritativen und auch nicht selbstgenugsamen Art Mensch: er hat Arbeitsamkeit, geduldige Einordnung in Reih und Glied, Gleichmässigkeit und Maass im Können und Bedürfen, er hat den Instinkt für Seinesgleichen und für Das, was Seinesgleichen nöthig hat, zum Beispiel jenes Stück Unabhängigkeit und grüner Weide, ohne welches es keine Ruhe der Arbeit giebt, jenen Anspruch auf Ehre und Anerkennung (die zuerst und zuoberst Erkennung, Erkennbarkeit voraussetzt —), jenen Sonnenschein des guten Namens, jene beständige Besiegelung seines Werthes und seiner Nützlichkeit, mit der das innerliche Misstrauen, der Grund im Herzen aller abhängigen Menschen und Heerdenthiere, immer wieder überwunden werden muss. Der Gelehrte hat, wie billig, auch die Krankheiten und Unarten einer unvornehmen Art: er ist reich am kleinen Neide und hat ein Luchsauge für das Niedrige solcher Naturen, zu deren Höhen er nicht hinauf kann. Er ist zutraulich, doch nur wie Einer, der sich gehen, aber nicht strömen lässt; und gerade vor dem Menschen des grossen Stroms steht er um so kälter und verschlossener da, — sein Auge ist dann wie ein glatter widerwilliger See, in dem sich kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr kräuselt. Das Schlimmste und Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom Instinkte der Mittelmässigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus der Mittelmässigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder — noch lieber! — abzuspannen sucht. Abspannen nämlich, mit Rücksicht, mit schonender Hand natürlich —, mit zutraulichem Mitleiden abspannen: das ist die eigentliche Kunst des Jesuitismus, der es immer verstanden hat, sich als Religion des Mitleidens einzuführen. —