Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-186]

Die moralische Empfindung ist jetzt in Europa ebenso fein,...

Die moralische Empfindung ist jetzt in Europa ebenso fein, spät, vielfach, reizbar, raffinirt, als die dazu gehörige „Wissenschaft der Moral“ noch jung, anfängerhaft, plump und grobfingrig ist: — ein anziehender Gegensatz, der bisweilen in der Person eines Moralisten selbst sichtbar und leibhaft wird. Schon das Wort „Wissenschaft der Moral“ ist in Hinsicht auf Das, was damit bezeichnet wird, viel zu hochmüthig und wider den guten Geschmack: welcher immer ein Vorgeschmack für die bescheideneren Worte zu sein pflegt. Man sollte, in aller Strenge, sich eingestehn, was hier auf lange hinaus noch noth thut, was vorläufig allein Recht hat: nämlich Sammlung des Materials, begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehn, — und, vielleicht, Versuche, die wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden Krystallisation anschaulich zu machen, — als Vorbereitung zu einer Typenlehre der Moral. Freilich: man war bisher nicht so bescheiden. Die Philosophen allesammt forderten, mit einem steifen Ernste, der lachen macht, von sich etwas sehr viel Höheres, Anspruchsvolleres, Feierlicheres, sobald sie sich mit der Moral als Wissenschaft befassten: sie wollten die Begründung der Moral, — und jeder Philosoph hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben; die Moral selbst aber galt als „gegeben“. Wie ferne lag ihrem plumpen Stolze jene unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer Beschreibung, obwohl für sie kaum die feinsten Hände und Sinne fein genug sein könnten! Gerade dadurch, dass die Moral-Philosophen die moralischen facta nur gröblich, in einem willkürlichen Auszuge oder als zufällige Abkürzung kannten, etwa als Moralität ihrer Umgebung, ihres Standes, ihrer Kirche, ihres Zeitgeistes, ihres Klima’s und Erdstriches, — gerade dadurch, dass sie in Hinsicht auf Völker, Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral gar nicht zu Gesichte: — als welche alle erst bei einer Vergleichung vieler Moralen auftauchen. In aller bisherigen „Wissenschaft der Moral“ fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe. Was die Philosophen „Begründung der Moral“ nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein neues Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe: — und jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, Vivisektion eben dieses Glaubens. Man höre zum Beispiel, mit welcher beinahe verehrenswürdigen Unschuld noch Schopenhauer seine eigene Aufgabe hinstellt, und man mache seine Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit einer „Wissenschaft“, deren letzte Meister noch wie die Kinder und die alten Weibchen reden: — „das Princip, sagt er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), der Grundsatz, über dessen Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind; neminem laede, immo omnes, quantum potes, juva — das ist eigentlich der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer sich abmühen.... das eigentliche Fundament der Ethik, welches man wie den Stein der Weisen seit Jahrtausenden sucht.“ — Die Schwierigkeit, den angeführten Satz zu begründen, mag freilich gross sein — bekanntlich ist es auch Schopenhauern damit nicht geglückt —; und wer einmal gründlich nachgefühlt hat, wie abgeschmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist —, der mag sich daran erinnern lassen, dass Schopenhauer, obschon Pessimist, eigentlich — die Flöte blies.... Täglich, nach Tisch: man lese hierüber seinen Biographen. Und beiläufig gefragt: ein Pessimist, ein Gott- und Welt-Verneiner, der vor der Moral Halt macht, — der zur Moral Ja sagt und Flöte bläst, zur laede-neminem-Moral: wie? ist das eigentlich — ein Pessimist?