Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-225]

Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob...

Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus: alle diese Denkweisen, welche nach Lust und Leid, das heisst nach Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird. Mitleiden mit euch! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint: das ist nicht Mitleiden mit der socialen „Noth“, mit der „Gesellschaft“ und ihren Kranken und Verunglückten, mit Lasterhaften und Zerbrochnen von Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen; das ist noch weniger Mitleiden mit murrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schichten, welche nach Herrschaft — sie nennen’s „Freiheit“ — trachten. Unser Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden: — wir sehen, wie der Mensch sich verkleinert, wie ihr ihn verkleinert! — und es giebt Augenblicke, wo wir gerade eurem Mitleiden mit einer unbeschreiblichen Beängstigung zusehn, wo wir uns gegen dies Mitleiden wehren —, wo wir euren Ernst gefährlicher als irgend welche Leichtfertigkeit finden. Ihr wollt womöglich — und es giebt kein tolleres „womöglich“ — das Leiden abschaffen; und wir? — es scheint gerade, wir wollen es lieber noch höher und schlimmer haben, als je es war! Wohlbefinden, wie ihr es versteht — das ist ja kein Ziel, das scheint uns ein Ende! Ein Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich macht, — der seinen Untergang wünschen macht! Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens — wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick des grossen Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden ist: — ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen Leidens geschenkt worden? Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag: — versteht ihr diesen Gegensatz? Und dass euer Mitleid dem „Geschöpf im Menschen“ gilt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglüht, geläutert werden muss, — dem, was nothwendig leiden muss und leiden soll? Und unser Mitleid — begreift ihr’s nicht, wem unser umgekehrtes Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid wehrt, als gegen die schlimmste aller Verzärtelungen und Schwächen? — Mitleid also gegen Mitleid! — Aber, nochmals gesagt, es giebt höhere Probleme als alle Lust- und Leid- und Mitleid-Probleme; und jede Philosophie, die nur auf diese hinausläuft, ist eine Naivetät. —