Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-244]

Es gab eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit...

Es gab eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit Auszeichnung „tief“ zu nennen: jetzt, wo der erfolgreichste Typus des neuen Deutschthums nach ganz andern Ehren geizt und an Allem, was Tiefe hat, vielleicht die „Schneidigkeit“ vermisst, ist der Zweifel beinahe zeitgemäss und patriotisch, ob man sich ehemals mit jenem Lobe nicht betrogen hat: genug, ob die deutsche Tiefe nicht im Grunde etwas Anderes und Schlimmeres ist — und Etwas, das man, Gott sei Dank, mit Erfolg loszuwerden im Begriff steht. Machen wir also den Versuch, über die deutsche Tiefe umzulernen: man hat Nichts dazu nöthig, als ein wenig Vivisektion der deutschen Seele. — Die deutsche Seele ist vor Allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und übereinandergesetzt, als wirklich gebaut: das liegt an ihrer Herkunft. Ein Deutscher, der sich erdreisten wollte, zu behaupten „zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ würde sich in der Wahrheit arg vergreifen, richtiger, hinter der Wahrheit um viele Seelen zurückbleiben. Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht des vor-arischen Elementes, als „Volk der Mitte“ in jedem Verstande, sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker sich selber sind: — sie entschlüpfen der Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen. Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage „was ist deutsch?“ niemals ausstirbt. Kotzebue kannte seine Deutschen gewiss gut genug: „wir sind erkannt“ jubelten sie ihm zu, — aber auch Sand glaubte sie zu kennen. Jean Paul wusste, was er that, als er sich ergrimmt gegen Fichte’s verlogne, aber patriotische Schmeicheleien und Übertreibungen erklärte, — aber es ist wahrscheinlich, dass Goethe anders über die Deutschen dachte, als Jean Paul, wenn er ihm auch in Betreff Fichtens Recht gab. Was Goethe eigentlich über die Deutschen gedacht hat? — er hat über viele Dinge um sich herum nie deutlich geredet und verstand sich zeitlebens auf das feine Schweigen: — wahrscheinlich hatte er gute Gründe dazu. Gewiss ist, dass es nicht „die Freiheitskriege“ waren, die ihn freudiger aufblicken liessen, so wenig als die französische Revolution, — das Ereigniss, um dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem „Mensch“ umgedacht hat, war das Erscheinen Napoleon’s. Es giebt Worte Goethe’s, in denen er, wie vom Auslande her, mit einer ungeduldigen Härte über Das abspricht, was die Deutschen sich zu ihrem Stolze rechnen: das berühmte deutsche Gemüth definirt er einmal als „Nachsicht mit fremden und eignen Schwächen“. Hat er damit Unrecht? — es kennzeichnet die Deutschen, dass man über sie selten völlig Unrecht hat. Die deutsche Seele hat Gänge und Zwischengänge in sich, es giebt in ihr Höhlen, Verstecke, Burgverliesse; ihre Unordnung hat viel vom Reize des Geheimnissvollen; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos. Und wie jeglich Ding sein Gleichniss liebt, so liebt der Deutsche die Wolken und Alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht und verhängt ist: das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende, Wachsende jeder Art fühlt er als „tief“. Der Deutsche selbst ist nicht, er wird, er „entwickelt sich“. „Entwicklung“ ist deshalb der eigentlich deutsche Fund und Wurf im grossen Reich philosophischer Formeln: — ein regierender Begriff, der, im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa zu verdeutschen. Die Ausländer stehen erstaunt und angezogen vor den Räthseln, die ihnen die Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele aufgiebt (welche Hegel in System gebracht, Richard Wagner zuletzt noch in Musik gesetzt hat). „Gutmüthig und tückisch“ — ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben! Die Schwerfälligkeit des deutschen Gelehrten, seine gesellschaftliche Abgeschmacktheit verträgt sich zum Erschrecken gut mit einer innewendigen Seiltänzerei und leichten Kühnheit, vor der bereits alle Götter das Fürchten gelernt haben. Will man die „deutsche Seele“ ad oculos demonstrirt, so sehe man nur in den deutschen Geschmack, in deutsche Künste und Sitten hinein: welche bäurische Gleichgültigkeit gegen „Geschmack“! Wie steht da das Edelste und Gemeinste neben einander! Wie unordentlich und reich ist dieser ganze Seelen-Haushalt! Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an Allem, was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit „fertig“; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde „Verdauung“. Und wie alle Gewohnheits-Kranken, alle Dyspeptiker den Hang zum Bequemen haben, so liebt der Deutsche die „Offenheit“ und „Biederkeit“: wie bequem ist es, offen und bieder zu sein! — Es ist heute vielleicht die gefährlichste und glücklichste Verkleidung, auf die sich der Deutsche versteht, dies Zutrauliche, Entgegenkommende, die-Karten-Aufdeckende der deutschen Redlichkeit: sie ist seine eigentliche Mephistopheles-Kunst, mit ihr kann er es „noch weit bringen“! Der Deutsche lässt sich gehen, blickt dazu mit treuen blauen leeren deutschen Augen — und sofort verwechselt das Ausland ihn mit seinem Schlafrocke! — Ich wollte sagen: mag die „deutsche Tiefe“ sein, was sie will, — ganz unter uns erlauben wir uns vielleicht über sie zu lachen? — wir thun gut, ihren Anschein und guten Namen auch fürderhin in Ehren zu halten und unsern alten Ruf, als Volk der Tiefe, nicht zu billig gegen preussische „Schneidigkeit“ und Berliner Witz und Sand zu veräussern. Es ist für ein Volk klug, sich für tief, für ungeschickt, für gutmüthig, für redlich, für unklug gelten zu machen, gelten zu lassen: es könnte sogar — tief sein! Zuletzt: man soll seinem Namen Ehre machen, — man heisst nicht umsonst das „tiusche“ Volk, das Täusche-Volk...