Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-289]

Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas...

Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem Wiederhall der Oede, Etwas von dem Flüstertone und dem scheuen Umsichblicken der Einsamkeit an; aus seinen stärksten Worten, aus seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art des Schweigens, Verschweigens heraus. Wer Jahraus, Jahrein und Tags und Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und Zwiegespräche zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle — sie kann ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein — zum Höhlenbär oder Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen wurde: dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph — gesetzt, dass ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war — seine eigentlichen und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt? — ja er wird zweifeln, ob ein Philosoph „letzte und eigentliche“ Meinungen überhaupt haben könne, ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse — eine umfänglichere fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder „Begründung“. Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie — das ist ein Einsiedler-Urtheil: „es ist etwas Willkürliches daran, dass er hier stehen blieb, zurückblickte, sich umblickte, dass er hier nicht mehr tiefer grub und den Spaten weglegte, — es ist auch etwas Misstrauisches daran.“ Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.