Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-54]

Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? Seit...

Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? Seit Descartes — und zwar mehr aus Trotz gegen ihn, als auf Grund seines Vorgangs — macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt- und Prädikat-Begriffs — das heisst: ein Attentat auf die Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie, als eine erkenntnisstheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen, antichristlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös. Ehemals nämlich glaubte man an „die Seele“, wie man an die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte: man sagte, „Ich“ ist Bedingung, „denke“ ist Prädikat und bedingt — Denken ist eine Thätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werden muss. Nun versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob man nicht aus diesem Netze heraus könne, — ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei: „denke“ Bedingung, „Ich“ bedingt; „Ich“ also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird. Kant wollte im Grunde beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne, — das Objekt auch nicht: die Möglichkeit einer Scheinexistenz des Subjekts, also „der Seele“, mag ihm nicht immer fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als Vedanta-Philosophie schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden dagewesen ist.