[MA-26]
Die Reaction als Fortschritt
Mitunter erscheinen schroffe, gewaltsame und fortreissende, aber trotzdem zurückgebliebene Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal heraufbeschwören: sie dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen, welchen sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, dass Etwas an ihnen fehlt: sonst würden sie jenen Beschwörern besseren Widerpart halten. So zeugt zum Beispiel Luther's Reformation dafür, dass in seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr Haupt erheben. Ja, die gesammte Renaissance erscheint wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer's Metaphysik, dass auch jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kräftig genug ist: so konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauer's Lehre, trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte "metaphysische Bedürfniss". Es ist gewiss einer der grössten und ganz unschätzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er unsere Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad führen würde. Der Gewinn für die Historie und die Gerechtigkeit ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopenhauer's Beihülfe dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christenthums aus unmöglich ist. Erst nach diesem grossen Erfolge der Gerechtigkeit, erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung - die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire - von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht.