Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-477]

Der Krieg unentbehrlich

Es ist eitel Schwärmerei und Schönseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar: erst recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu führen. Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersönliche Hass, jene Mörder-Kaltblütigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgültigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele ebenso stark und sicher mitgetheilt werden könnte, wie diess jeder grosse Krieg thut: von den hier hervorbrechenden Bächen und Strömen, welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich wälzen und die Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nachher unter günstigen Umständen die Räderwerke in den Werkstätten des Geistes mit neuer Kraft umgedreht. Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und Bosheiten durchaus nicht entbehren. - Als die kaiserlich gewordenen Römer der Kriege etwas müde wurden, versuchten sie aus Thierhetzen, Gladiatorenkämpfen und Christenverfolgungen sich neue Kraft zu gewinnen. Die jetzigen Engländer, welche im Ganzen auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um jene entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen: jene gefährlichen Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletterungen, zu wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst, unternommen, in Wahrheit, um überschüssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach Hause zu bringen. Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges ausfindig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der jetzigen Europäer, nicht nur der Kriege, sondern der grössten und furchtbarsten Kriege - also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei - bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen.