Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-631]

Aus den Zeiten her, in welchen Menschen daran gewöhnt...

Aus den Zeiten her, in welchen Menschen daran gewöhnt waren, an den Besitz der unbedingten Wahrheit zu glauben, stammt ein tiefes Missbehagen an allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu irgendwelchen Fragen der Erkenntniss; man zieht meistens vor, sich einer Ueberzeugung, welche Personen von Autorität haben (Väter, Freunde, Lehrer, Fürsten), auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, und hat, wenn man diess nicht thut, eine Art von Gewissensbissen. Dieser Hang ist ganz begreiflich und seine Folgen geben kein Recht zu heftigen Vorwürfen gegen die Entwickelung der menschlichen Vernunft. Allmählich muss aber der wissenschaftliche Geist im Menschen jene Tugend der vorsichtigen Enthaltung zeitigen, jene weise Mässigung, welche im Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist, als im Gebiet des theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel Goethe im Antonio dargestellt hat, als einen Gegenstand der Erbitterung für alle Tasso's, das heisst für die unwissenschaftlichen und zugleich thatlosen Naturen. Der Mensch der Ueberzeugung hat in sich ein Recht, jenen Menschen des vorsichtigen Denkens, den theoretischen Antonio, nicht zu begreifen; der wissenschaftliche Mensch hinwiederum hat kein Recht, jenen desshalb zu tadeln, er übersieht ihn und weiss ausserdem, im bestimmten Falle, dass jener sich an ihn noch anklammern wird, so wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut.