Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-VM-119]

Ursprünge des Geschmacks an Kunstwerken

Denkt man an die anfänglichen Keime des künstlerischen Sinnes und fragt sich, welche verschiedentlichen Arten der Freude durch die Erstlinge der Kunst, zum Beispiel bei wilden Völkerschaften, hervorgebracht werden, so findet man zuerst die Freude, zu verstehen, was ein Andrer meint; die Kunst ist hier eine Art Räthselaufgeben, das dem Errathenden Genuss am eigenen Schnell- und Scharfsinn verschafft. — Sodann erinnert man sich beim rohesten Kunstwerk an Das, was Einem in der Erfahrung angenehm war und hat insofern Freude, zum Beispiel wenn der Künstler auf Jagd, Sieg, Hochzeit hingedeutet hat. — Wiederum kann man sich durch das Dargestellte erregt, gerührt, entflammt fühlen, beispielsweise bei Verherrlichung von Rache und Gefahr. Hier liegt der Genuss in der Erregung selber, im Siege über die Langeweile. — auch die Erinnerung an das Unangenehme, insofern es überwunden ist, oder insofern es uns selber als Gegenstand der Kunst vor dem Zuhörer interessant erscheinen lässt (wie wenn der Sänger die Unfälle eines verwegenen Seefahrers beschreibt), kann grosse Freude machen, welche man dann der Kunst zu Gute rechnet. — Feinerer Art ist schon jene Freude, welche beim Anblick alles Regelmässigen und Symmetrischen, in Linien, Puncten, Rhythmen, entsteht; denn durch eine gewisse Aehnlichkeit wird die Empfindung für alles Geordnete und Regelmässige im Leben, dem man ja ganz allein alles Wohlbefinden zu danken hat, wachgerufen: im Cultus des Symmetrischen verehrt man also unbewusst die Regel und das Gleichmaass als Quelle seines bisherigen Glücks; diese Freude ist eine Art Dankgebet. Erst bei einer gewissen Uebersättigung an dieser letzterwähnten Freude entsteht das noch feinere Gefühl, dass auch im Durchbrechen des Symmetrischen und Geregelten Genuss liegen könne; wenn es zum Beispiel anreizt, Vernunft in der scheinbaren Unvernunft zu suchen, wodurch es dann, als eine Art ästhetischen Räthselrathens, wie eine höhere Gattung der zuerst erwähnten Kunstfreude dasteht. — Wer dieser Betrachtung weiter nachhängt, wird wissen, auf welche Art von Hypothesen hier zur Erklärung der ästhetischen Erscheinungen grundsätzlich verzichtet wird.