Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-VM-32]

Die angebliche „wirkliche Wirklichkeit

Die angebliche „wirkliche Wirklichkeit.“ — Der Dichter stellt sich so, wenn er die einzelnen Berufsarten z.B. die des Feldherrn, des Seidenwebers, des Seemanns schildert, als ob er diese Dinge von Grund aus kenne und ein Wissender sei; ja bei der Auseinanderlegung menschlicher Handlungen und Geschicke benimmt er sich, wie als ob er beim Ausspinnen des ganzen Weltennetzes zugegen gewesen sei: in so fern ist er ein Betrüger. Und zwar betrügt er vor lauter Nichtwissenden — und desshalb gelingt es ihm: diese bringen ihm das Lob seines ächten und tiefen Wissens entgegen und verleiten ihn endlich zu dem Wahne, er wisse die Dinge wirklich so gut wie der einzelne Kenner und Macher, ja wie die grosse Welten-Spinne selber. Zuletzt also wird der Betrüger ehrlich und glaubt an seine Wahrhaftigkeit. Ja, die empfindenden Menschen sagen es ihm sogar in’s Gesicht, er habe die höhere Wahrheit und Wahrhaftigkeit, — sie sind nämlich der Wirklichkeit zeitweilig müde und nehmen den dichterischen Traum als eine wohlthätige Ausspannung und Nacht für Kopf und Herz. Was dieser Traum ihnen zeigt, erscheint ihnen jetzt mehr werth, weil sie es, wie gesagt, wohlthätiger empfinden: und immer haben die Menschen gemeint, das werthvoller Scheinende sei das Wahrere, Wirklichere. Die Dichter, die sich dieser Macht bewusst sind, gehen absichtlich darauf aus, Das, was für gewöhnlich Wirklichkeit genannt wird, zu verunglimpfen und zum Unsichern, Scheinbaren, Unächten, Sünd-, Leid- und Trugvollen umzubilden; sie benützen alle Zweifel über die Gränzen der Erkenntniss, alle skeptischen Ausschreitungen, um die faltigen Schleier der Unsicherheit über die Dinge zu breiten: damit dann, nach dieser Umdunkelung, ihre Zauberei und Seelenmagie recht unbedenklich als Weg zur „wahren Wahrheit“, zur „wirklichen Wirklichkeit“ verstanden werde.