Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-VM-5]

Eine Erbsünde der Philosophen

Die Philosophen haben zu allen Zeiten die Sätze der Menschenprüfer (Moralisten) sich angeeignet und verdorben, dadurch dass sie dieselben unbedingt nahmen, und Das als nothwendig beweisen wollten, was von jenen nur als ungefährer Fingerzeig oder gar als land- oder stadtsässige Wahrheit eines Jahrzehends gemeint war, — während sie gerade dadurch sich über jene zu erheben meinten. So wird man als Grundlage der berühmten Lehren Schopenhauer’s vom Primat des Willens vor dem Intellect, von der Unveränderlichkeit des Charakters, von der Negativität der Lust — welche alle, so wie er sie versteht, Irrthümer sind — populäre Weisheiten finden, welche Moralisten aufgestellt haben. Schon das Wort „Wille“, welches Schopenhauer zur gemeinsamen Bezeichnung vieler menschlicher Zustände umbildete und in eine Lücke der Sprache hineinstellte, zum grossen Vortheil für ihn selber, soweit er Moralist war — da es ihm nun freistand, vom „Willen“ zu reden, wie Pascal von ihm geredet hatte —, schon der „Wille“ Schopenhauer’s ist unter den Händen seines Urhebers, durch die Philosophen-Wuth der Verallgemeinerung, zum Unheil für die Wissenschaft ausgeschlagen: denn dieser Wille ist zu einer poetischen Metapher gemacht, wenn behauptet wird, alle Dinge in der Natur hätten Willen; endlich ist er, zum Zwecke einer Verwendung bei allerhand mystischem Unfuge, zu einer falschen Verdinglichung gemissbraucht worden — und alle Modephilosophen sagen es nach und scheinen es ganz genau zu wissen, dass alle Dinge Einen Willen hätten, ja dieser Eine Wille wären (was, nach der Abschilderung, die man von diesem All-Eins-Willen macht, so viel bedeutet als ob man durchaus den dummen Teufel zum Gotte haben wolle).