Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-156]

Modernster Vortrag der Musik

Der grosse tragisch-dramatische Vortrag in der Musik bekommt seinen Charakter durch Nachahmung der Gebärden des grossen Sünders, wie ihn das Christenthum sich denkt und wünscht: des langsam schreitenden, leidenschaftlich Grübelnden, des von Gewissensqual Hin- und Hergeworfenen, des entsetzt Fliehenden, des entzückt Haschenden, des verzweifelt Stillestehenden — und was sonst Alles die Merkmale des grossen Sünderthums sind. Nur unter der Voraussetzung des Christen, dass alle Menschen grosse Sünder sind und gar Nichts thun, als sündigen, liesse es sich rechtfertigen, jenen Stil des Vortrags auf alle Musik anzuwenden: insofern die Musik das Abbild alles menschlichen Thuns und Treibens wäre, und als solches die Gebärdensprache des grossen Sünders fortwährend zu sprechen hätte. Ein Zuhörer, der nicht genug Christ wäre, um diese Logik zu verstehen, dürfte freilich bei einem solchen Vortrage erschreckt ausrufen: „Um des Himmels willen, wie ist denn die Sünde in die Musik gekommen!“