Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-320]

Reicher und ärmer zugleich

Ich kenne einen Menschen, der als Kind schon sich gewöhnt hatte, gut von der Intellectualität der Menschen zu denken, also von ihrer wahren Hingebung in Bezug auf geistige Dinge, ihrer uneigennützigen Bevorzugung des als wahr Erkannten und dergleichen, dagegen von seinem eigenen Kopfe (Urtheil, Gedächtniss, Geistesgegenwart, Phantasie) bescheidene, ja niedrige Begriffe zu haben. Er machte sich Nichts aus sich, wenn er sich mit Anderen verglich. Nun wurde er im Laufe der Jahre erst einmal und dann hundertfach gezwungen, in diesem Puncte umzulernen, — man sollte denken zu seiner grossen Freude und Genugthuung. Es gab auch in der That Etwas davon; aber „doch ist, wie er einmal sagte, eine Bitterkeit der bittersten Art beigemischt, welche ich im früheren Leben nicht kannte: denn seit ich die Menschen und mich selber in Hinsicht auf geistige Bedürfnisse gerechter schätze, scheint mir mein Geist weniger nütze; ich glaube damit kaum noch etwas Gutes erweisen zu können, weil der Geist der Anderen es nicht anzunehmen versteht: ich sehe jetzt die schreckliche Kluft zwischen dem Hülfreichen und dem Hülfebedürftigen immer vor mir. Und so quält mich die Noth, meinen Geist für mich haben und allein geniessen zu müssen, so weit er geniessbar ist. Aber geben ist seliger als haben: und was ist der Reichste in der Einsamkeit einer Wüste!“