Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-34]

Die Tugenden der Einbusse

Als Mitglieder von Gesellschaften glauben wir gewisse Tugenden nicht ausüben zu dürfen, die uns als Privaten die grösste Ehre und einiges Vergnügen machen, zum Beispiel Gnade und Nachsicht gegen Verfehlende aller Art, — überhaupt jede Handlungsweise, bei welcher der Vortheil der Gesellschaft durch unsere Tugend leiden würde. Kein Richter-Collegium darf sich vor seinem Gewissen erlauben, gnädig zu sein: dem König, als einem Einzelnen, hat man diess Vorrecht aufbehalten; man freut sich, wenn er Gebrauch davon macht, zum Beweise, dass man gern gnädig sein möchte, aber durchaus nicht als Gesellschaft. Diese erkennt somit nur die ihr vortheilhaften oder mindestens unschädlichen Tugenden an (die ohne Einbusse oder gar mit Zinsen geübt werden, zum Beispiel Gerechtigkeit). Jene Tugenden der Einbusse können demnach in der Gesellschaft nicht entstanden sein, da noch jetzt, innerhalb jeder kleinsten sich bildenden Gesellschaft der Widerspruch gegen sie sich erhebt. Es sind also Tugenden unter Nicht-Gleichgestellten, erfunden von dem Ueberlegenen, Einzelnen, es sind Herrscher-Tugenden, mit dem Hintergedanken, „ich bin mächtig genug, um mir eine ersichtliche Einbusse gefallen zu lassen, diess ist ein Beweis meiner Macht“ — also mit Stolz verwandte Tugenden.