Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-5]

Sprachgebrauch und Wirklichkeit

Es giebt eine erheuchelte Missachtung aller der Dinge, welche thatsächlich die Menschen am wichtigsten nehmen, aller nächsten Dinge. Man sagt zum Beispiel „man isst nur, um zu leben“, — eine verfluchte Lüge, wie jene, welche von der Kinderzeugung als der eigentlichen Absicht aller Wollust redet. Umgekehrt ist die Hochschätzung der „wichtigsten Dinge“ fast niemals ganz ächt: die Priester und Metaphysiker haben uns zwar auf diesen Gebieten durchaus an einen heuchlerisch übertreibenden Sprachgebrauch gewöhnt, aber das Gefühl doch nicht umgestimmt, welches diese wichtigsten Dinge nicht so wichtig nimmt, wie jene verachteten nächsten Dinge. — Eine leidige Folge dieser doppelten Heuchelei aber ist immerhin, dass man die nächsten Dinge, zum Beispiel Essen, Wohnen, Sich-Kleiden, Verkehren, nicht zum Object des stätigen unbefangenen und allgemeinen Nachdenkens und Umbildens macht, sondern, weil diess für herabwürdigend gilt, seinen intellectuellen und künstlerischen Ernst davon abwendet; so dass hier die Gewohnheit und die Frivolität über die Unbedachtsamen, namentlich über die unerfahrene Jugend leichten Sieg haben: während andererseits unsere fortwährenden Verstösse gegen die einfachsten Gesetze des Körpers und Geistes uns Alle, jüngere und Aeltere, in eine beschämende Abhängigkeit und Unfreiheit bringen, — ich meine in jene im Grunde überflüssige Abhängigkeit von Aerzten, Lehrern und Seelsorgern, deren Druck jetzt immer noch auf der ganzen Gesellschaft liegt.