Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-24]

Zur Beurtheilung des Verbrechers und seines Richters

Der Verbrecher, der den ganzen Fluss der Umstände kennt, findet seine That nicht so ausser der Ordnung und Begreiflichkeit, wie seine Richter und Tadler; seine Strafe aber wird ihm gerade nach dem Grade von Erstaunen zugemessen, welches jene beim Anblick der That als einer Unbegreiflichkeit befällt. — Wenn die Kenntniss, welche der Vertheidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit genug reicht, so müssen die sogenannten Milderungsgründe, welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder, noch deutlicher: der Vertheidiger wird schrittweise jenes verurtheilende und Strafe zumessende Erstaunen mildern und zuletzt ganz aufheben, indem er jeden ehrlichen Zuhörer zu dem inneren Geständniss nöthigt: „er musste so handeln, wie er gehandelt hat; wir würden, wenn wir straften, die ewige Nothwendigkeit bestrafen.“ — Den Grad der Strafe abmessen nach dem Grad der Kenntniss, welchen man von der Historie eines Verbrechens hat oder überhaupt gewinnen kann, — streitet diess nicht wider alle Billigkeit? —