[JGB-209]
Inwiefern das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir...
Inwiefern das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir Europäer ersichtlich eingetreten sind, vielleicht auch der Entwicklung einer anderen und stärkeren Art von Skepsis günstig sein mag, darüber möchte ich mich vorläufig nur durch ein Gleichniss ausdrücken, welches die Freunde der deutschen Geschichte schon verstehen werden. Jener unbedenkliche Enthusiast für schöne grossgewachsene Grenadiere, welcher, als König von Preussen, einem militärischen und skeptischen Genie — und damit im Grunde jenem neuen, jetzt eben siegreich heraufgekommenen Typus des Deutschen — das Dasein gab, der fragwürdige tolle Vater Friedrichs des Grossen, hatte in Einem Punkte selbst den Griff und die Glücks-Kralle des Genies: er wusste, woran es damals in Deutschland fehlte, und welcher Mangel hundert Mal ängstlicher und dringender war, als etwa der Mangel an Bildung und gesellschaftlicher Form, — sein Widerwille gegen den jungen Friedrich kam aus der Angst eines tiefen Instinktes. Männer fehlten; und er argwöhnte zu seinem bittersten Verdrusse, dass sein eigner Sohn nicht Manns genug sei. Darin betrog er sich: aber wer hätte an seiner Stelle sich nicht betrogen? Er sah seinen Sohn dem Atheismus, dem esprit, der genüsslichen Leichtlebigkeit geistreicher Franzosen verfallen: — er sah im Hintergrunde die grosse Blutaussaugerin, die Spinne Skepsis, er argwöhnte das unheilbare Elend eines Herzens, das zum Bösen wie zum Guten nicht mehr hart genug ist, eines zerbrochnen Willens, der nicht mehr befiehlt, nicht mehr befehlen kann. Aber inzwischen wuchs in seinem Sohne jene gefährlichere und härtere neue Art der Skepsis empor — wer weiss, wie sehr gerade durch den Hass des Vaters und durch die eisige Melancholie eines einsam gemachten Willens begünstigt? — die Skepsis der verwegenen Männlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und zur Eroberung nächst verwandt ist und in der Gestalt des grossen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt. Diese Skepsis verachtet und reisst trotzdem an sich; sie untergräbt und nimmt in Besitz; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei; sie giebt dem Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng; es ist die deutsche Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter und in’s Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine gute Zeit unter die Botmässigkeit des deutschen Geistes und seines kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat. Dank dem unbezwinglich starken und zähen Manns-Charakter der grossen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker (welche, richtig angesehn, allesammt auch Artisten der Zerstörung und Zersetzung waren) stellte sich allmählich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie ein neuer Begriff vom deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur männlichen Skepsis entscheidend hervortrat: sei es zum Beispiel als Unerschrockenheit des Blicks, als Tapferkeit und Härte der zerlegenden Hand, als zäher Wille zu gefährlichen Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen Himmeln. Es mag seine guten Gründe haben, wenn sich warmblütige und oberflächliche Menschlichkeits-Menschen gerade vor diesem Geiste bekreuzigen: cet esprit fataliste, ironique, méphistophélique nennt ihn, nicht ohne Schauder, Michelet. Aber will man nachfühlen, wie auszeichnend diese Furcht vor dem „Mann“ im deutschen Geiste ist, durch den Europa aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt wurde, so möge man sich des ehemaligen Begriffs erinnern, der mit ihm überwunden werden musste, — und wie es noch nicht zu lange her ist, dass ein vermännlichtes Weib es in zügelloser Anmaassung wagen durfte, die Deutschen als sanfte herzensgute willensschwache und dichterische Tölpel der Theilnahme Europa’s zu empfehlen. Man verstehe doch endlich das Erstaunen Napoleon’s tief genug, als er Goethen zu sehen bekam: es verräth, was man sich Jahrhunderte lang unter dem „deutschen Geiste“ gedacht hatte. „Voilà un homme!“ — das wollte sagen: „Das ist ja ein Mann! Und ich hatte nur einen Deutschen erwartet!“ —