Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-227]

Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der...

Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht loskönnen, wir freien Geister — nun, wir wollen mit aller Bosheit und Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in unsrer Tugend, die allein uns übrig blieb, zu „vervollkommnen“: mag ihr Glanz einmal wie ein vergoldetes blaues spöttisches Abendlicht über dieser alternden Cultur und ihrem dumpfen düsteren Ernste liegen bleiben! Und wenn dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird und seufzt und die Glieder streckt und uns zu hart findet und es besser, leichter, zärtlicher haben möchte, gleich einem angenehmen Laster: bleiben wir hart, wir letzten Stoiker! und schicken wir ihr zu Hülfe, was wir nur an Teufelei in uns haben — unsern Ekel am Plumpen und Ungefähren, unser „nitimur in vetitum“, unsern Abenteuerer-Muth, unsre gewitzte und verwöhnte Neugierde, unsern feinsten verkapptesten geistigsten Willen zur Macht und Welt-Überwindung, der begehrlich um alle Reiche der Zukunft schweift und schwärmt, — kommen wir unserm „Gotte“ mit allen unsern „Teufeln“ zu Hülfe! Es ist wahrscheinlich, dass man uns darob verkennt und verwechselt: was liegt daran! Man wird sagen: „ihre „Redlichkeit“ — das ist ihre Teufelei, und gar nichts mehr!“ was liegt daran! Und selbst wenn man Recht hätte! Waren nicht alle Götter bisher dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel? Und was wissen wir zuletzt von uns? Und wie der Geist heissen will, der uns führt? (es ist eine Sache der Namen.) Und wie viele Geister wir bergen? Unsre Redlichkeit, wir freien Geister, — sorgen wir dafür, dass sie nicht unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit werde! Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend; „dumm bis zur Heiligkeit“ sagt man in Russland, — sorgen wir dafür, dass wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu Heiligen und Langweiligen werden! Ist das Leben nicht hundert Mal zu kurz, sich in ihm — zu langweilen? Man müsste schon an’s ewige Leben glauben, um....