[JGB-228]
Man vergebe mir die Entdeckung, dass alle...
Man vergebe mir die Entdeckung, dass alle Moral-Philosophie bisher langweilig war und zu den Schlafmitteln gehörte — und dass „die Tugend“ durch nichts mehr in meinen Augen beeinträchtigt worden ist, als durch diese Langweiligkeit ihrer Fürsprecher; womit ich noch nicht deren allgemeine Nützlichkeit verkannt haben möchte. Es liegt viel daran, dass so wenig Menschen als möglich über Moral nachdenken, — es liegt folglich sehr viel daran, dass die Moral nicht etwa eines Tages interessant werde! Aber man sei unbesorgt! Es steht auch heute noch so, wie es immer stand: ich sehe Niemanden in Europa, der einen Begriff davon hätte (oder gäbe), dass das Nachdenken über Moral gefährlich, verfänglich, verführerisch getrieben werden könnte, — dass Verhängniss darin liegen könnte! Man sehe sich zum Beispiel die unermüdlichen unvermeidlichen englischen Utilitarier an, wie sie plump und ehrenwerth in den Fusstapfen Bentham’s, daher wandeln, dahin wandeln (ein homerisches Gleichniss sagt es deutlicher), so wie er selbst schon in den Fusstapfen des ehrenwerthen Helvétius wandelte (nein, das war kein gefährlicher Mensch, dieser Helvétius!). Kein neuer Gedanke, Nichts von feinerer Wendung und Faltung eines alten Gedankens, nicht einmal eine wirkliche Historie des früher Gedachten: eine unmögliche Litteratur im Ganzen, gesetzt, dass man sie nicht mit einiger Bosheit sich einzusäuern versteht. Es hat sich nämlich auch in diese Moralisten (welche man durchaus mit Nebengedanken lesen muss, falls man sie lesen muss —), jenes alte englische Laster eingeschlichen, das cant heisst und moralische Tartüfferie ist, dies Mal unter die neue Form der Wissenschaftlichkeit versteckt; es fehlt auch nicht an geheimer Abwehr von Gewissensbissen, an denen billigerweise eine Rasse von ehemaligen Puritanern bei aller wissenschaftlichen Befassung mit Moral leiden wird. (Ist ein Moralist nicht das Gegenstück eines Puritaners? Nämlich als ein Denker, der die Moral als fragwürdig, fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt? Sollte Moralisiren nicht — unmoralisch sein?) Zuletzt wollen sie Alle, dass die englische Moralität Recht bekomme: insofern gerade damit der Menschheit, oder dem „allgemeinen Nutzen“ oder „dem Glück der Meisten“, nein! dem Glücke Englands am besten gedient wird; sie möchten mit allen Kräften sich beweisen, dass das Streben nach englischem Glück, ich meine nach comfort und fashion (und, an höchster Stelle, einem Sitz im Parlament) zugleich auch der rechte Pfad der Tugend sei, ja dass, so viel Tugend es bisher in der Welt gegeben hat, es eben in einem solchen Streben bestanden habe. Keins von allen diesen schwerfälligen, im Gewissen beunruhigten Heerdenthieren (die die Sache des Egoismus als Sache der allgemeinen Wohlfahrt zu führen unternehmen —) will etwas davon wissen und riechen, dass die „allgemeine Wohlfahrt“ kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist, — dass, was dem Einen billig ist, durchaus noch nicht dem Andern billig sein kann, dass die Forderung Einer Moral für Alle die Beeinträchtigung gerade der höheren Menschen ist, kurz, dass es eine Rangordnung zwischen Mensch und Mensch, folglich auch zwischen Moral und Moral giebt. Es ist eine bescheidene und gründlich mittelmässige Art Mensch, diese utilitarischen Engländer, und, wie gesagt: insofern sie langweilig sind, kann man nicht hoch genug von ihrer Utilität denken. Man sollte sie noch ermuthigen: wie es, zum Theil, mit nachfolgenden Reimen versucht worden ist. Heil euch, brave Karrenschieber, Stets „je länger, desto lieber“, Steifer stets an Kopf und Knie, Unbegeistert, ungespässig, Unverwüstlich-mittelmässig, Sans genie et sans esprit!