Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-229]

Es bleibt in jenen späten Zeitaltern, die auf...

Es bleibt in jenen späten Zeitaltern, die auf Menschlichkeit stolz sein dürfen, so viel Furcht, so viel Aberglaube der Furcht vor dem „wilden grausamen Thiere“ zurück, über welches Herr geworden zu sein eben den Stolz jener menschlicheren Zeitalter ausmacht, dass selbst handgreifliche Wahrheiten wie auf Verabredung Jahrhunderte lang unausgesprochen bleiben, weil sie den Anschein haben, jenem wilden, endlich abgetödteten Thiere wieder zum Leben zu verhelfen. Ich wage vielleicht etwas, wenn ich eine solche Wahrheit mir entschlüpfen lasse: mögen Andre sie wieder einfangen und ihr so viel „Milch der frommen Denkungsart“ zu trinken geben, bis sie still und vergessen in ihrer alten Ecke liegt. — Man soll über die Grausamkeit umlernen und die Augen aufmachen; man soll endlich Ungeduld lernen, damit nicht länger solche unbescheidne dicke Irrthümer tugendhaft und dreist herumwandeln, wie sie zum Beispiel in Betreff der Tragödie von alten und neuen Philosophen aufgefüttert worden sind. Fast Alles, was wir „höhere Cultur“ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit — dies ist mein Satz; jenes „wilde Thier“ ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur — vergöttlicht. Was die schmerzliche Wollust der Tragödie ausmacht, ist Grausamkeit; was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar in allem Erhabenen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schaudern der Metaphysik, angenehm wirkt, bekommt seine Süssigkeit allein von der eingemischten Ingredienz der Grausamkeit. Was der Römer in der Arena, der Christ in den Entzückungen des Kreuzes, der Spanier Angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, der Japanese von heute, der sich zur Tragödie drängt, der Pariser Vorstadt-Arbeiter, der ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat, die Wagnerianerin, welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich „ergehen lässt“, — was diese Alle geniessen und mit geheimnissvoller Brunst in sich hineinzutrinken trachten, das sind die Würztränke der grossen Circe „Grausamkeit“. Dabei muss man freilich die tölpelhafte Psychologie von Ehedem davon jagen, welche von der Grausamkeit nur zu lehren wusste, dass sie beim Anblicke fremden Leides entstünde: es giebt einen reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eignen Leiden, am eignen Sich-leiden-machen, — und wo nur der Mensch zur Selbst-Verleugnung im religiösen Sinne oder zur Selbstverstümmelung, wie bei Phöniziern und Asketen, oder überhaupt zur Entsinnlichung, Entfleischung, Zerknirschung, zum puritanischen Busskrampfe, zur Gewissens-Vivisektion und zum Pascalischen sacrifizio dell’intelletto sich überreden lässt, da wird er heimlich durch seine Grausamkeit gelockt und vorwärts gedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der gegen sich selbst gewendeten Grausamkeit. Zuletzt erwäge man, dass selbst der Erkennende, indem er seinen Geist zwingt, wider den Hang des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche seines Herzens zu erkennen — nämlich Nein zu sagen, wo er bejahen, lieben, anbeten möchte —, als Künstler und Verklärer der Grausamkeit waltet; schon jedes Tief- und Gründlich-Nehmen ist eine Vergewaltigung, ein Wehe-thun-wollen am Grundwillen des Geistes, welcher unablässig zum Scheine und zu den Oberflächen hin will, — schon in jedem Erkennen-Wollen ist ein Tropfen Grausamkeit.