Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-253]

Es giebt Wahrheiten, die am besten von mittelmässigen...

Es giebt Wahrheiten, die am besten von mittelmässigen Köpfen erkannt werden, weil sie ihnen am gemässesten sind, es giebt Wahrheiten, die nur für mittelmässige Geister Reize und Verführungskräfte besitzen: — auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man gerade jetzt hingestossen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmässiger Engländer — ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer — in der mittleren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht zu gelangen anhebt. In der That, wer möchte die Nützlichkeit davon anzweifeln, dass zeitweilig solche Geister herrschen? Es wäre ein Irrthum, gerade die hochgearteten und abseits fliegenden Geister für besonders geschickt zu halten, viele kleine gemeine Thatsachen festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen: — sie sind vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen Stellung zu den „Regeln“. Zuletzt haben sie mehr zu thun, als nur zu erkennen — nämlich etwas Neues zu sein, etwas Neues zu bedeuten, neue Werthe darzustellen! Die Kluft zwischen Wissen und Können ist vielleicht grösser, auch unheimlicher als man denkt: der Könnende im grossen Stil, der Schaffende wird möglicherweise ein Unwissender sein müssen, — während andererseits zu wissenschaftlichen Entdeckungen nach der Art Darwin’s eine gewisse Enge, Dürre und fleissige Sorglichkeit, kurz, etwas Englisches nicht übel disponiren mag. — Vergesse man es zuletzt den Engländern nicht, dass sie schon Ein Mal mit ihrer tiefen Durchschnittlichkeit eine Gesammt-Depression des europäischen Geistes verursacht haben: Das, was man „die modernen Ideen“ oder „die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts“ oder auch „die französischen Ideen“ nennt — Das also, wogegen sich der deutsche Geist mit tiefem Ekel erhoben hat —, war englischen Ursprungs, daran ist nicht zu zweifeln. Die Franzosen sind nur die Affen und Schauspieler dieser Ideen gewesen, auch ihre besten Soldaten, insgleichen leider ihre ersten und gründlichsten Opfer: denn an der verdammlichen Anglomanie der „modernen Ideen“ ist zuletzt die âme française so dünn geworden und abgemagert, dass man sich ihres sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts, ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft, ihrer erfinderischen Vornehmheit heute fast mit Unglauben erinnert. Man muss aber diesen Satz historischer Billigkeit mit den Zähnen festhalten und gegen den Augenblick und Augenschein vertheidigen: die europäische noblesse — des Gefühls, des Geschmacks, der Sitte, kurz, das Wort in jedem hohen Sinne genommen — ist Frankreich’s Werk und Erfindung, die europäische Gemeinheit, der Plebejismus der modernen Ideen — Englands. —