Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-254]

Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten...

Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffinirtesten Cultur Europa’s und die hohe Schule des Geschmacks: aber man muss dies „Frankreich des Geschmacks“ zu finden wissen. Wer zu ihm gehört, hält sich gut verborgen: — es mag eine kleine Zahl sein, in denen es leibt und lebt, dazu vielleicht Menschen, welche nicht auf den kräftigsten Beinen stehn, zum Theil Fatalisten, Verdüsterte, Kranke, zum Theil Verzärtelte und Verkünstelte, solche, welche den Ehrgeiz haben, sich zu verbergen. Etwas ist Allen gemein: sie halten sich die Ohren zu vor der rasenden Dummheit und dem lärmenden Maulwerk des demokratischen bourgeois. In der That wälzt sich heut im Vordergrunde ein verdummtes und vergröbertes Frankreich, — es hat neuerdings, bei dem Leichenbegängniss Victor Hugo’s, eine wahre Orgie des Ungeschmacks und zugleich der Selbstbewunderung gefeiert. Auch etwas Anderes ist ihnen gemeinsam: ein guter Wille, sich der geistigen Germanisirung zu erwehren — und ein noch besseres Unvermögen dazu! Vielleicht ist jetzt schon Schopenhauer in diesem Frankreich des Geistes, welches auch ein Frankreich des Pessimismus ist, mehr zu Hause und heimischer geworden, als er es je in Deutschland war; nicht zu reden von Heinrich Heine, der den feineren und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, oder von Hegel, der heute in Gestalt Taine’s — das heisst des ersten lebenden Historikers — einen beinahe tyrannischen Einfluss ausübt. Was aber Richard Wagner betrifft: je mehr sich die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der âme moderne gestalten lernt, um so mehr wird sie „wagnerisiren“, das darf man vorhersagen, — sie thut es jetzt schon genug! Es ist dennoch dreierlei, was auch heute noch die Franzosen mit Stolz als ihr Erb und Eigen und als unverlornes Merkmal einer alten Cultur-Überlegenheit über Europa aufweisen können, trotz aller freiwilligen oder unfreiwilligen Germanisirung und Verpöbelung des Geschmacks: einmal die Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften, zu Hingebungen an die „Form“, für welche das Wort l’art pour l’art, neben tausend anderen, erfunden ist: — dergleichen hat in Frankreich seit drei Jahrhunderten nicht gefehlt und immer wieder, Dank der Ehrfurcht vor der „kleinen Zahl“, eine Art Kammermusik der Litteratur ermöglicht, welche im übrigen Europa sich suchen lässt —. Das Zweite, worauf die Franzosen eine Überlegenheit über Europa begründen können, ist ihre alte vielfache moralistische Cultur, welche macht, dass man im Durchschnitt selbst bei kleinen romanciers der Zeitungen und zufälligen boulevardiers de Paris eine psychologische Reizbarkeit und Neugierde findet, von der man zum Beispiel in Deutschland keinen Begriff (geschweige denn die Sache!) hat. Den Deutschen fehlen dazu ein paar Jahrhunderte moralistischer Art, welche, wie gesagt, Frankreich sich nicht erspart hat; wer die Deutschen darum „naiv“ nennt, macht ihnen aus einem Mangel ein Lob zurecht. (Als Gegensatz zu der deutschen Unerfahrenheit und Unschuld in voluptate psychologica, die mit der Langweiligkeit des deutschen Verkehrs nicht gar zu fern verwandt ist, — und als gelungenster Ausdruck einer ächt französischen Neugierde und Erfindungsgabe für dieses Reich zarter Schauder mag Henri Beyle gelten, jener merkwürdige vorwegnehmende und vorauslaufende Mensch, der mit einem Napoleonischen Tempo durch sein Europa, durch mehrere Jahrhunderte der europäischen Seele lief, als ein Ausspürer und Entdecker dieser Seele: — es hat zweier Geschlechter bedurft, um ihn irgendwie einzuholen, um einige der Räthsel nachzurathen, die ihn quälten und entzückten, diesen wunderlichen Epicureer und Fragezeichen-Menschen, der Frankreichs letzter grosser Psycholog war —). Es giebt noch einen dritten Anspruch auf Überlegenheit: im Wesen der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und Südens gegeben, welche sie viele Dinge begreifen macht und andre Dinge thun heisst, die ein Engländer nie begreifen wird; ihr dem Süden periodisch zugewandtes und abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu Zeit das provençalische und ligurische Blut überschäumt, bewahrt sie vor dem schauerlichen nordischen Grau in Grau und der sonnenlosen Begriffs-Gespensterei und Blutarmuth, — unsrer deutschen Krankheit des Geschmacks, gegen deren Übermaass man sich augenblicklich mit grosser Entschlossenheit Blut und Eisen, will sagen: die „grosse Politik“ verordnet hat (gemäss einer gefährlichen Heilkunst, welche mich warten und warten, aber bis jetzt noch nicht hoffen lehrt —). Auch jetzt noch giebt es in Frankreich ein Vorverständniss und ein Entgegenkommen für jene seltneren und selten befriedigten Menschen, welche zu umfänglich sind, um in irgend einer Vaterländerei ihr Genüge zu finden und im Norden den Süden, im Süden den Norden zu lieben wissen, — für die geborenen Mittelländler, die „guten Europäer“. — Für sie hat Bizet Musik gemacht, dieses letzte Genie, welches eine neue Schönheit und Verführung gesehn, — der ein Stück Süden der Musik entdeckt hat.