Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-255]

Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für...

Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten. Gesetzt, dass Einer den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine grosse Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung, welche sich über ein selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein Solcher wird sich etwas vor der deutschen Musik in Acht nehmen lernen, weil sie, indem sie seinen Geschmack zurück verdirbt, ihm die Gesundheit mit zurück verdirbt. Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben nach, muss, falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren, vielleicht böseren und geheimnissvolleren Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick des blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen Himmels-Helle nicht verklingt, vergilbt, verblasst, wie es alle deutsche Musik thut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den braunen Sonnen-Untergängen der Wüste Recht behält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter grossen schönen einsamen Raubthieren heimisch zu sein und zu schweifen versteht..... Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber darin bestünde, dass sie von Gut und Böse nichts mehr wüsste, nur dass vielleicht irgend ein Schiffer-Heimweh, irgend welche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von grosser Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre. —