Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-259]

Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der...

Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, seinen Willen dem des Andern gleich setzen: dies kann in einem gewissen groben Sinne zwischen Individuen zur guten Sitte werden, wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich deren thatsächliche Ähnlichkeit in Kraftmengen und Werthmaassen und ihre Zusammengehörigkeit innerhalb Eines Körpers). Sobald man aber dies Princip weiter nehmen wollte und womöglich gar als Grundprincip der Gesellschaft, so würde es sich sofort erweisen als Das, was es ist: als Wille zur Verneinung des Lebens, als Auflösungs- und Verfalls-Princip. Hier muss man gründlich auf den Grund denken und sich aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren: Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung, — aber wozu sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von Alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist? Auch jener Körper, innerhalb dessen, wie vorher angenommen wurde, die Einzelnen sich als gleich behandeln — es geschieht in jeder gesunden Aristokratie —, muss selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper ist, alles Das gegen andre Körper thun, wessen sich die Einzelnen in ihm gegen einander enthalten: er wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht gewinnen wollen, — nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er lebt, und weil Leben eben Wille zur Macht ist. In keinem Punkte ist aber das gemeine Bewusstsein der Europäer widerwilliger gegen Belehrung, als hier; man schwärmt jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen „der ausbeuterische Charakter“ abgehn soll: — das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die „Ausbeutung“ gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und primitiven Gesellschaft an: sie gehört in’s Wesen des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. — Gesetzt, dies ist als Theorie eine Neuerung, — als Realität ist es das Ur-Faktum aller Geschichte: man sei doch so weit gegen sich ehrlich! —