Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-275]

Cyniker und Epikureer

Der Cyniker erkennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten und stärkeren Schmerzen des höher cultivirten Menschen und der Fülle von Bedürfnissen; er begreift also, dass die Menge von Meinungen über das Schöne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebenso sehr reiche Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen musste. Gemäss dieser Einsicht bildet er sich zurück, indem er viele dieser Meinungen aufgiebt und sich gewissen Anforderungen der Cultur entzieht; damit gewinnt er ein Gefühl der Freiheit und der Kräftigung; und allmählich, wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise erträglich macht, hat er in der That seltnere und schwächere Unlustempfindungen, als die cultivirten Menschen, und nähert sich dem Hausthier an; überdiess empfindet er Alles im Reiz des Contrastes und - schimpfen kann er ebenfalls nach Herzenslust; so dass er dadurch wieder hoch über die Empfindungswelt des Thieres hinauskommt. - Der Epikureer hat den selben Gesichtspunct wie der Cyniker; zwischen ihm und jenem ist gewöhnlich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der Epikureer seine höhere Cultur, um sich von den herrschenden Meinungen unabhängig zu machen; er erhebt sich über dieselben, während der Cyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in windstillen, wohlgeschützten, halbdunkelen Gängen, während über ihm, im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm verrathen, wie heftig bewegt da draussen die Welt ist. Der Cyniker dagegen geht gleichsam nackt draussen im Windeswehen umher und härtet sich bis zur Gefühllosigkeit ab.