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Der freieste Schriftsteller
Wie dürfte in einem Buche für freie Geister Lorenz Sterne ungenannt bleiben, er, den Goethe als den freiesten Geist seines Jahrhunderts geehrt hat! Möge er hier mit der Ehre fürlieb nehmen, der freieste Schriftsteller aller Zeiten genannt zu werden, in Vergleich mit welchem alle Andern steif, vierschrötig, unduldsam und bäurisch-geradezu erscheinen. An ihm dürfte nicht die geschlossene, klare, sondern die „unendliche Melodie“ gerühmt werden: wenn mit diesem Worte ein Stil der Kunst zu einem Namen kommt, bei dem die bestimmte Form fortwährend gebrochen, verschoben, in das Unbestimmte zurückübersetzt wird, so dass sie das Eine und zugleich das Andere bedeutet. Sterne ist der grosse Meister der Zweideutigkeit, — diess Wort billigerweise viel weiter genommen als man gemeinhin thut, wenn man dabei an geschlechtliche Beziehungen denkt. Der Leser ist verloren zu geben, der jederzeit genau wissen will, was Sterne eigentlich über eine Sache denkt, ob er bei ihr ein ernsthaftes oder ein lächelndes Gesicht macht: denn er versteht sich auf Beides in Einer Faltung seines Gesichtes; er versteht es ebenfalls und will es sogar, zugleich Recht und Unrecht zu haben, den Tiefsinn und die Posse zu verknäueln. Seine Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwickelungen der Geschichte; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft, keine Sache nur flach und äusserlich nehmen zu können. So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit darüber hervor, ob man gehe, stehe oder liege: ein Gefühl, welches dem des Schwebens am verwandtesten ist. Er, der geschmeidigste Autor, theilt auch seinem Leser Etwas von dieser Geschmeidigkeit mit. Ja, Sterne verwechselt unversehens die Rollen und ist bald ebenso Leser als er Autor ist; sein Buch gleicht einem Schauspiel im Schauspiel, einem Theaterpublicum vor einem andern Theaterpublicum. Man muss sich der Sternischen Laune auf Gnade und Ungnade ergeben — und kann übrigens erwarten, dass sie gnädig, immer gnädig ist. — Seltsam und belehrend ist es, wie ein so grosser Schriftsteller wie Diderot sich zu dieser allgemeinen Zweideutigkeit Sterne’s gestellt hat: nämlich ebenfalls zweideutig — und das eben ist ächt Sternischer Ueberhumor. Hat er jenen, in seinem Jacques le fataliste, nachgeahmt, bewundert, verspottet, parodirt? — man kann es nicht völlig herausbekommen, — und vielleicht hat gerade diess sein Autor gewollt. Gerade dieser Zweifel macht die Franzosen gegen das Werk eines ihrer ersten Meister (der sich vor keinem Alten und Neuen zu schämen braucht) ungerecht. Die Franzosen sind eben zum Humor — und namentlich zu diesem humoristisch-Nehmen des Humors selber — zu ernsthaft. — Sollte es nöthig sein, hinzuzufügen, dass Sterne unter allen grossen Schriftstellern das schlechteste Muster und der eigentlich unvorbildliche Autor ist, und dass selbst Diderot sein Wagniss büssen musste? Das, was die guten Franzosen und vor ihnen einzelne Griechen als Prosaiker wollten und konnten, ist genau das Gegentheil von dem, was Sterne will und kann: er erhebt sich eben als meisterhafte Ausnahme über Das, was alle schriftstellerischen Künstler von sich fordern: Zucht, Geschlossenheit, Charakter, Beständigkeit der Absichten, Ueberschaulichkeit, Schlichtheit, Haltung in Gang und Miene. — Leider scheint der Mensch Sterne mit dem Schriftsteller Sterne nur zu verwandt gewesen zu sein: seine Eichhorn-Seele sprang mit unbändiger Unruhe von Zweig zu Zweig; was nur zwischen Erhaben und Schuftig liegt, war ihm bekannt; auf jeder Stelle hatte er gesessen, immer mit dem unverschämten wässerigen Auge und dem empfindsamen Mienenspiele. Er war, wenn die Sprache vor einer solchen Zusammenstellung nicht erschrecken wollte, von einer hartherzigen Gutmüthigkeit und hatte in den Genüssen einer barocken, ja verderbten Einbildungskraft fast die blöde Anmuth der Unschuld. Eine solche fleisch- und seelenhafte Zweideutigkeit, eine solche Freigeisterei bis in jede Faser und Muskel des Leibes hinein, wie er diese Eigenschaften hatte, besass vielleicht kein anderer Mensch.