Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-VM-134]

Wie nach der neueren Musik sich die Seele bewegen soll

Die künstlerische Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich, als „unendliche Melodie“ bezeichnet wird, kann man sich dadurch klar machen, dass man in’s Meer geht, allmählich den sichern Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt: man soll schwimmen. In der bisherigen älteren Musik musste man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wieder, Schneller und Langsamer, tanzen: wobei das hierzu nöthige Maass, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende Besonnenheit erzwang: auf dem Widerspiele dieses kühleren Luftzuges, welcher von der Besonnenheit herkam, und des durchwärmten Athems musikalischer Begeisterung ruhte der Zauber jener Musik. — Richard Wagner wollte eine andere Art Bewegung der Seele, welche, wie gesagt, dem Schwimmen und Schweben verwandt ist. Vielleicht ist diess das Wesentlichste aller seiner Neuerungen. Sein berühmtes Kunstmittel, diesem Wollen entsprungen und angepasst — die „unendliche Melodie“ — bestrebt sich alle mathematischen Zeit- und Kraft-Ebenmässigkeit zu brechen, mitunter selbst zu verhöhnen, und er ist überreich in der Erfindung solcher Wirkungen, welche dem älteren Ohre wie rhythmische Paradoxien und Lästerreden klingen. Er fürchtet die Versteinerung, die Krystallisation, den Uebergang der Musik in das Architektonische, — und so stellt er dem zweitactigen Rhythmus einen dreitactigen entgegen, führt nicht selten den Fünf- und Siebentact ein, wiederholt die selbe Phrase sofort, aber mit einer Dehnung, dass sie die doppelte und dreifache Zeitdauer bekommt. Aus einer bequemen Nachahmung solcher Kunst kann eine grosse Gefahr für die Musik entstehen: immer hat neben der Ueberreife des rhythmischen Gefühls die Verwilderung, der Verfall der Rhythmik im Versteck gelauert. Sehr gross wird zumal diese Gefahr, wenn eine solche Musik sich immer enger an eine ganz naturalistische, durch keine höhere Plastik erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und Gebärdensprache anlehnt, welche in sich kein Maass hat und dem sich ihr anschmiegenden Elemente, dem allzu weiblichen Wesen der Musik, auch kein Maass mitzutheilen vermag.