[MA-VM-186]
Cultus der Cultur
Grossen Geistern ist das abschreckende Allzumenschliche ihres Wesens, ihrer Blindheiten, Verkennungen, Maasslosigkeiten beigegeben, damit ihr mächtiger, leicht allzumächtiger Einfluss fortwährend durch das Misstrauen, welches jene Eigenschaften einflössen, in Schranken gehalten werde. Denn das System alles Dessen, was die Menschheit zu ihrem Fortbestehen nöthig hat, ist so umfassend und nimmt so verschiedenartige und zahlreiche Kräfte in Anspruch, dass für jede einseitige Bevorzugung, sei es der Wissenschaft oder des Staates oder der Kunst oder des Handels, wozu jene Einzelnen treiben, die Menschheit als Ganzes harte Busse zahlen muss. Es ist immer das grösste Verhängniss der Cultur gewesen, wenn Menschen angebetet wurden: in welchem Sinne man sogar mit dem Spruche des mosaischen Gesetzes zusammen fühlen darf, welcher verbietet, neben Gott andere Götter zu haben. — Dem Cultus des Genius’ und der Gewalt muss man, als Ergänzung und Heilmittel, immer den Cultus der Cultur zur Seite stellen: welcher auch dem Stofflichen, Geringen, Niedrigen, Verkannten, Schwachen, Unvollkommenen, Einseitigen, Halben, Unwahren, Scheinenden, ja dem Bösen und Furchtbaren, eine verständnissvolle Würdigung und das Zugeständniss, dass diess Alles nöthig sei, zu schenken weiss; denn der Zusammen- und Fortklang alles Menchlichen, durch erstaunliche Arbeiten und Glücksfälle erreicht, und eben so sehr das Werk von Cyklopen und Ameisen als von Genie’s, soll nicht wieder verloren gehen: wie dürften wir da des gemeinsamen, tiefen, oft unheimlichen Grundbasses entrathen können, ohne den ja Melodie nicht Melodie zu sein vermag?