[MA-VM-220]
Das eigentlich Heidnische
Vielleicht giebt es nichts Befremdenderes für Den, welcher sich die griechische Welt ansieht, als zu entdecken, dass die Griechen allen ihren Leidenschaften und bösen Naturhängen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben und sogar eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staatswegen einrichteten: es ist diess das eigentlich Heidnische ihrer Welt, vom Christenthume aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das Härteste bekämpft und verachtet. — Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich und zogen vor, statt es zu beschimpfen, ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch Einordnung in die Bräuche der Gesellschaft und des Cultus’ zu geben: ja, alles, was im Menschen Macht hat, nannten sie göttlich und schrieben es an die Wände ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken ihn auf bestimmte Culte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmaassregeln erfunden haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen Abfluss geben zu können. Diess ist die Wurzel aller moralistischen Freisinnigkeit des Altherthums. Man gönnte dem Bösen und Bedenklichen, dem Thierisch-Rückständigen ebenso wie dem Barbaren, Vor-Griechen und Asiaten, welcher im Grunde des griechischen Wesens noch lebte, eine mässige Entladung und strebte nicht nach seiner völligen Vernichtung. Das ganze System solcher Ordnungen umfasste der Staat, der nicht auf einzelne Individuen oder Kasten, sondern auf die gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften hin construirt war. In seinem Baue zeigen die Griechen jenen wunderbaren Sinn für das Typisch-Thatsächliche, der sie später befähigte, Naturforscher, Historiker, Geographen und Philosophen zu werden. Es war nicht ein beschränktes, priesterliches oder kastenmässiges Sittengesetz, welches bei der Verfassung des Staates und Staats-Cultus’ zu entscheiden hatte: sondern die umfänglichste Rücksicht auf die Wirklichkeit alles Menschlichen. — Woher haben die Griechen diese Freiheit, diesen Sinn für das Wirkliche? Vielleicht von Homer und den Dichtern vor ihm; denn gerade die Dichter, deren Natur nicht die gerechteste und weiseste zu sein pflegt, besitzen dafür jene Lust am Wirklichen, Wirkenden jeder Art und wollen selbst das Böse nicht völlig verneinen: es genügt ihnen, dass es sich mässige und nicht Alles todtschlage oder innerlich giftig mache — das heisst, sie denken ähnlich wie die griechischen Staatenbildner und sind deren Lehrmeister und Wegebahner gewesen.