Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-VM-323]

Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen

Das, worin man die nationalen Unterschiede findet, ist viel mehr, als man bis jetzt eingesehen hat, nur der Unterschied verschiedener Culturstufen und zum geringsten Theile etwas Bleibendes (und auch diess nicht in einem strengen Sinne). Desshalb ist alles Argumentiren aus dem National-Charakter so wenig verpflichtend für Den, welcher an der Umschaffung der Ueberzeugungen, das heisst an der Cultur arbeitet. Erwägt man zum Beispiel was Alles schon deutsch gewesen ist, so wird man die theoretische Frage: was ist deutsch? sofort durch die Gegenfrage verbessern: „was ist jetzt deutsch?“ — und jeder gute Deutsche wird sie practisch, gerade durch Ueberwindung seiner deutschen Eigenschaften, lösen. Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so sprengt es jedesmal den Gürtel, der ihm bis dahin sein nationales Ansehen gab: bleibt es bestehen, verkümmert es, so schliesst sich ein neuer Gürtel um seine Seele; die immer härter werdende Kruste baut gleichsam ein Gefängniss herum, dessen Mauern immer wachsen. Hat ein Volk also sehr viel Festes, so ist diess ein Beweis, dass es versteinern will, und ganz und gar Monument werden möchte: wie es von einem bestimmten Zeitpuncte an das Aegypterthum war. Der also, welcher den Deutschen wohl will, mag für seinen Theil zusehen, wie er immer mehr aus dem, was deutsch ist, hinauswachse. Die Wendung zum Undeutschen ist desshalb immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen.