Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-VM-95]

„Liebe“

Der feinste Kunstgriff, welchen das Christenthum vor den übrigen Religionen voraus hat, ist ein Wort: es redete von Liebe. So wurde es die lyrische Religion (während in seinen beiden anderen Schöpfungen das Semitenthum der Welt heroisch-epische Religionen geschenkt hat). Es ist in dem Worte Liebe etwas so Vieldeutiges, Anregendes, zur Erinnerung, zur Hoffnung Sprechendes, dass auch die niedrigste Intelligenz und das kälteste Herz noch Etwas von dem Schimmer dieses Wortes fühlt. Das klügste Weib und der gemeinste Mann denken dabei an die verhältnissmässig uneigennützigsten Augenblicke ihres gesammten Lebens, selbst wenn Eros nur einen niedrigen Flug bei ihnen genommen hat; und jene Zahllosen, welche Liebe vermissen, von Seiten der Eltern, Kinder oder Geliebten, namentlich aber die Menschen der sublimirten Geschlechtlichkeit, haben im Christenthum ihren Fund gemacht.