Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-VM-96]

Das erfüllte Christenthum

Es giebt auch innerhalb des Christenthums eine epikureische Gesinnung, ausgehend von dem Gedanken, dass Gott von dem Menschen, seinem Geschöpf und Ebenbilde, nur verlangen könne, was diesem zu erfüllen möglich sein müsse, dass also christliche Tugend und Vollkommenheit erreichbar und oft erreicht sei. Nun macht zum Beispiel der Glaube, seine Feinde zu lieben — selbst wenn es eben nur Glaube, Einbildung und durchaus keine psychologische Wirklichkeit (also keine Liebe) ist — unbedingt glücklich, so lange er wirklich geglaubt wird (warum? darüber werden freilich Psycholog und Christ verschieden denken). Und so möchte das irdische Leben durch den Glauben, ich meine die Einbildung, nicht nur jenem Anspruche, seine Feinde zu lieben, sondern allen übrigen christlichen Ansprüchen zu genügen und die göttliche Vollkommenheit nach der Aufforderung „seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ wirklich sich angeeignet und einverleibt zu haben, in der That zu einem seligen Leben werden. Der Irrthum kann also die Verheissung Christi zur Wahrheit machen.