Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-VM-97]

Von der Zukunft des Christenthums

Ueber das Verschwinden des Christenthums und darüber, in welchen Gegenden es am langsamsten weichen wird, kann man sich eine Vermuthung gestatten, wenn man erwägt, aus welchen Gründen und wo der Protestantismus so ungestüm um sich griff. Er verhiess bekanntlich alles das Selbe weit billiger zu leisten, was die alte Kirche leistete, also ohne kostspielige Seelenmessen, Wallfahrten, Priester-Prunk und -Ueppigkeit; er verbreitete sich namentlich bei den nördlichen Nationen, welche nicht so tief in der Symbolik und Formenlust der alten Kirche eingewurzelt waren, als die des Südens: bei diesen lebte ja im Christenthume das viel mächtigere religiöse Heidenthum fort, während im Norden das Christenthum einen Gegensatz und Bruch mit dem Altheimischen bedeutete und desshalb mehr gedankenhaft als sinnfällig von Anfang an war, eben desshalb aber auch, zu Zeiten der Gefahr, fanatischer und trotziger. Gelingt es, vom Gedanken aus das Christenthum zu entwurzeln, so liegt auf der Hand, wo es anfangen wird, zu verschwinden: also gerade dort, wo es auch am allerhärtesten sich wehren wird. Anderwärts wird es sich beugen, aber nicht brechen, entblättert werden, aber wieder Blätter ansetzen, — weil dort die Sinne und nicht die Gedanken für dasselbe Partei genommen haben. Die Sinne aber sind es, welche auch den Glauben unterhalten, dass mit allem Kostenaufwand der Kirche doch immer noch billiger und bequemer gewirthschaftet werde, als mit den strengen Verhältnissen von Arbeit und Lohn: denn welches Preises hält man die Musse (oder die halbe Faulheit) für werth, wenn man sich erst an sie gewöhnt hat! Die Sinne wenden gegen eine entchristlichte Welt ein, dass in ihr zu viel gearbeitet werden müsse, und der Ertrag an Musse zu klein sei; sie nehmen die Partei der Magie, das heisst — sie lassen lieber Gott für sich arbeiten (oremus nos, deus laboret!)