Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-122]

Die künstlerische Convention

Dreiviertel Homer ist Convention; und ähnlich steht es bei allen griechischen Künstlern, die zu der modernen Originalitätswuth keinen Grund hatten. Es fehlte ihnen alle Angst vor der Convention; durch diese hiengen sie ja mit ihrem Publicum zusammen. Conventionen sind nämlich die für das Verständniss der Zuhörer eroberten Kunstmittel, die mühvoll erlernte gemeinsame Sprache, mit welcher der Künstler sich wirklich mittheilen kann. Zumal wenn er, wie der griechische Dichter und Musiker, mit jedem seiner Kunstwerke sofort siegen will — da er öffentlich mit einem oder zweien Nebenbuhlern zu ringen gewöhnt ist —, so ist die erste Bedingung, dass er sofort auch verstanden werde: was aber nur durch die Convention möglich ist. Das, was der Künstler über die Convention hinaus erfindet, das giebt er aus freien Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten Fall mit dem Erfolge, dass er eine neue Convention schafft. Für gewöhnlich wird das Originale angestaunt, mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden; der Convention hartnäckig ausweichen heisst: nicht verstanden werden wollen. Worauf weist also die moderne Originalitätswuth hin?