Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-171]

Die Angestellten der Wissenschaft und die Anderen

Die eigentlich tüchtigen und erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesammt als „Angestellte“ bezeichnen. Wenn, in jungen Jahren, ihr Scharfsinn hinreichend geübt, ihr Gedächtniss gefüllt ist, wenn Hand und Auge Sicherheit gewonnen haben, so werden sie von einem älteren Gelehrten auf eine Stelle der Wissenschaft angewiesen, wo ihre Eigenschaften Nutzen bringen können; späterhin, nachdem sie selber den Blick für die lückenhaften und schadhaften Stellen ihrer Wissenschaft erlangt haben, stellen sie sich von selber dorthin, wo sie noth thun. Diese Naturen allesammt sind um der Wissenschaft willen da: aber es giebt seltnere, selten gelingende und völlig ausreifende Naturen, „um derentwillen die Wissenschaft da ist“ — wenigstens scheint es ihnen selber so —: oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige, fast immer aber bis zu einem Grade zauberhafte Menschen. Sie sind nicht Angestellte, und auch nicht Ansteller, sie bedienen sich dessen, was von Jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist, in einer gewissen fürstenhaften Gelassenheit und mit geringem und seltenem Lobe: gleichsam als ob Jene einer niedrigern Gattung von Wesen angehörten. Und doch haben sie eben nur die gleichen Eigenschaften, wodurch diese Anderen sich auszeichnen, und diese mitunter sogar ungenügender entwickelt: obendrein ist ihnen eine Beschränktheit eigenthümlich, die Jenen fehlt, und derentwegen es unmöglich ist, sie an einen Posten zu stellen und in ihnen nützliche Werkzeuge zu sehen, — sie können nur in ihrer eigenen Luft, auf ihrem eigenen Boden leben. Diese Beschränktheit giebt ihnen ein, was Alles von einer Wissenschaft „zu ihnen gehöre“, das heisst, was sie in ihre Luft und Wohnung heimtragen können; sie wähnen immer ihr zerstreutes „Eigenthum“ zu sammeln. Verhindert man sie, an ihrem eigenen Neste zu bauen, so gehen sie wie obdachlose Vögel zu Grunde; Unfreiheit ist für sie Schwindsucht. Pflegen sie einzelne Gegenden der Wissenschaft in der Art jener Anderen, so sind es doch immer nur solche, wo gerade die ihnen nöthigen Früchte und Samen gedeihen; was geht es sie an, ob die Wissenschaft, im Ganzen gesehen, unangebaute oder schlecht gepflegte Gegenden hat? Es fehlt ihnen jede unpersönliche Theilnahme an einem Problem der Erkenntniss: wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen auch alle ihre Einsichten und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen Vielfachen, dessen einzelne Theile von einander abhängen, in einander greifen, gemeinsam ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen eignen Geruch hat. — Solche Naturen bringen, mit diesen ihren personenhaften Erkenntniss-Gebilden, jene Täuschung hervor, dass eine Wissenschaft (oder gar die ganze Philosophie) fertig sei und am Ziele stehe; das Leben in ihrem Gebilde übt diesen Zauber aus: als welcher zu Zeiten sehr verhängnissvoll für die Wissenschaft und irreführend für jene vorhin beschriebenen, eigentlich tüchtigen Arbeiter des Geistes gewesen ist, zu andern Zeiten wiederum, als die Dürre und die Ermattung herrschten, wie ein Labsal und gleich dem Anhauche einer kühlen erquicklichen Raststätte gewirkt hat. — Gewöhnlich nennt man solche Menschen Philosophen.