Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-181]

Die Eitelkeit als die grosse Nützlichkeit

Ursprünglich behandelt der starke Einzelne nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft und die schwächeren Einzelnen als Gegenstand des Raub-Baues: er nützt sie aus, so viel er kann, und geht dann weiter. Weil er sehr unsicher lebt, wechselnd zwischen Hunger und Ueberfluss, so tödtet er mehr Thiere, als er verzehren kann, und plündert und misshandelt die Menschen mehr, als nöthig wäre. Seine Machtäusserung ist eine Racheäusserung zugleich gegen seinen pein- und angstvollen Zustand: sodann will er für mächtiger gelten, als er ist, und missbraucht desshalb die Gelegenheiten: der Furchtzuwachs, den er erzeugt, ist sein Machtzuwachs. Er merkt zeitig, dass nicht Das, was er ist, sondern Das, was er gilt, ihn trägt oder niederwirft: hier ist der Ursprung der Eitelkeit. Der Mächtige sucht mit allen Mitteln Vermehrung des Glaubens an seine Macht. — Die Unterworfenen, die vor ihm zittern und ihm dienen, wissen wiederum, dass sie genau so viel werth sind als sie ihm gelten: wesshalb sie auf diese Geltung hinarbeiten und nicht auf ihre eigene Befriedigung an sich. Wir kennen die Eitelkeit nur in den abgeschwächtesten Formen, in ihren Sublimirungen und kleinen Dosen, weil wir in einem späten und sehr gemilderten Zustande der Gesellschaft leben: ursprünglich ist sie die grosse Nützlichkeit, das stärkste Mittel der Erhaltung. Und zwar wird die Eitelkeit um so grösser sein, je klüger der Einzelne ist: weil die Vermehrung des Glaubens an Macht leichter ist, als die Vermehrung der Macht selber, aber nur für Den, der Geist hat, — oder, wie es für Urzustände heissen muss, der listig und hinterhaltig ist.