Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-22]

Princip des Gleichgewichts

Der Räuber und der Mächtige, welcher einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich im Grunde ganz ähnliche Wesen, nur dass der zweite seinen Vortheil anders, als der erste erreicht: nämlich durch regelmässige Abgaben, welche die Gemeinde an ihn entrichtet, und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist das nämliche Verhältniss wie zwischen Handelsmann und Seeräuber, welche lange Zeit ein und die selbe Person sind: wo ihr die eine Function nicht räthlich scheint, da übt sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst jetzt noch alle Kaufmanns-Moral nur die Verklügerung der Seeräuber-Moral: so wohlfeil wie möglich kaufen — womöglich für Nichts, als die Unternehmungskosten —, so theuer wie möglich verkaufen.) Das Wesentliche ist: jener Mächtige verspricht, gegen den Räuber Gleichgewicht zu halten; darin sehen die Schwachen eine Möglichkeit, zu leben. Denn entweder müssen sie sich selber zu einer gleichwiegenden Macht zusammenthun oder sich einem Gleichwiegenden unterwerfen (ihm für seine Leistungen Dienste leisten). Dem letzteren Verfahren wird gern der Vorzug gegeben, weil es im Grunde zwei gefährliche Wesen in Schach hält: das erste durch das zweite und das zweite durch den Gesichtspunct des Vortheils; letzteres hat nämlich seinen Gewinn davon, die Unterworfenen gnädig oder leidlich zu behandeln, damit sie nicht nur sich, sondern auch ihren Beherrscher ernähren können. Thatsächlich kann es dabei immer noch hart und grausam genug zugehen, aber verglichen mit der früher immer möglichen völligen Vernichtung athmen die Menschen schon in diesem Zustande auf. — Die Gemeinde ist im Anfang die Organisation der Schwachen zum Gleichgewicht mit gefahrdrohenden Mächten. Eine Organisation zum Uebergewicht wäre räthlicher, wenn man dabei so stark würde, um die Gegenmacht auf einmal zu vernichten: und handelt es sich um einen einzelnen mächtigen Schadenthuer, so wird diess gewiss versucht. Ist aber der Eine ein Stammhaupt oder hat er grossen Anhang, so ist die schnelle, entscheidende Vernichtung unwahrscheinlich und die dauernde lange Fehde zu gewärtigen: diese aber bringt der Gemeinde den am wenigsten wünschbaren Zustand mit sich, weil sie durch ihn die Zeit verliert, für ihren Lebensunterhalt mit der nöthigen Regelmässigkeit zu sorgen, und den Ertrag aller Arbeit jeden Augenblick bedroht sieht. Desshalb zieht die Gemeinde vor, ihre Macht zu Vertheidigung und Angriff genau auf die Höhe zu bringen, auf der die Macht des gefährlichen Nachbars ist, und ihm zu verstehen geben, dass in ihrer Wagschale jetzt gleichviel Erz liege: warum wolle man nicht gut Freund mit einander sein? — Gleichgewicht ist also ein sehr wichtiger Begriff für die älteste Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit. Wenn diese in roheren Zeiten sagt „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, so setzt sie das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermöge dieser Vergeltung erhalten: sodass, wenn jetzt der Eine sich gegen den Andern vergeht, der Andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt. Sondern vermöge des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestörten Machtverhältnisse wiederhergestellt: denn ein Auge, ein Arm mehr ist in solchen Urzuständen ein Stück Macht, ein Gewicht mehr. — Innerhalb einer Gemeinde, in der Alle sich als gleichgewichtig betrachten, ist gegen Vergehungen, das heisst gegen Durchbrechungen des Princips des Gleichgewichtes, Schande und Strafe da: Schande, ein Gewicht, eingesetzt gegen den übergreifenden Einzelnen, der durch den Uebergriff sich Vortheile verschafft hat, durch die Schande nun wieder Nachtheile erfährt, die den früheren Vortheil aufheben und überwiegen. Ebenso steht es mit der Strafe: sie stellt gegen das Uebergewicht, das sich jeder Verbrecher zuspricht, ein viel grösseres Gegengewicht auf, gegen Gewaltthat den Kerkerzwang, gegen den Diebstahl den Wiederersatz und die Strafsumme. So wird der Frevler erinnert, dass er mit seiner Handlung aus der Gemeinde und deren Moral-Vortheilen ausschied: sie behandelt ihn wie einen Ungleichen, Schwachen, ausser ihr Stehenden; desshalb ist Strafe nicht nur Wiedervergeltung, sondern hat ein Mehr, ein Etwas von der Härte des Naturzustandes; an diesen will sie eben erinnern.