Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-23]

Ob die Anhänger der Lehre vom freien Willen strafen...

Ob die Anhänger der Lehre vom freien Willen strafen dürfen? — Die Menschen, welche von Berufswegen richten und strafen, suchen in jedem Falle festzustellen, ob ein Uebelthäter überhaupt für seine That verantwortlich ist, ob er seine Vernunft anwenden konnte, ob er aus Gründen handelte und nicht unbewusst oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man, dass er die schlechteren Gründe den besseren vorzog: welche er also gekannt haben muss. Wo diese Kentniss fehlt, ist der Mensch nach der herrschenden Ansicht unfrei und nicht verantwortlich: es sei denn, dass seine Unkenntniss, zum Beispiel seine ignorantia legis, die Folge einer absichtlichen Vernachlässigung des Erlernens ist; dann hat er also schon damals, als er nicht lernen wollte was er sollte, die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen, und muss jetzt die Folge seiner schlechten Wahl büssen. Wenn er dagegen die besseren Gründe nicht gesehen hat, etwa aus Stumpf- und Blödsinn, so pflegt man nicht zu strafen: es hat ihm, wie man sagt, die Wahl gefehlt, er handelte als Thier. Die absichtliche Verleugnung der besseren Vernunft ist jetzt die Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrecher macht. Wie kann aber Jemand absichtlich unvernünftiger sein, als er sein muss? Woher die Entscheidung, wenn die Wagschalen mit guten und schlechten Motiven belastet sind? Also nicht vom Irrthum, von der Blindheit her, nicht von einem äusseren, auch von keinem inneren Zwange her (man erwäge übrigens, dass jeder sogenannte „äussere Zwang“ Nichts weiter ist, als der innere Zwang der Furcht und des Schmerzes). Woher? fragt man immer wieder. Die Vernunft soll also nicht die Ursache sein, weil sie sich nicht gegen die besseren Gründe entscheiden könnte? Hier nun ruft man den „freien Willen“ zu Hülfe: es soll das vollendete Belieben entscheiden, ein Moment eintreten, wo kein Motiv wirkt,wo die That als Wunder geschieht, aus dem Nichts heraus. Man straft diese angebliche Beliebigkeit, in einem Falle, wo kein Belieben herrschen sollte: die Vernunft, welche das Gesetz, das Verbot und Gebot kennt, hätte gar keine Wahl lassen dürfen, meint man, und als Zwang und höhere Macht wirken sollen. Der Verbrecher wird also bestraft, weil er vom „freien Willen“ Gebrauch macht, das heisst weil er ohne Grund gehandelt hat, wo er nach Gründen hätte handeln sollen. Aber warum that er diess? Diess eben darf nicht einmal mehr gefragt werden: es war eine That ohne „darum“, ohne Motiv, ohne Herkunft, etwas Zweckloses und Vernunftloses. — Eine solche That dürfte man aber, nach der ersten oben vorangeschickten Bedingung aller Strafbarkeit, auch nicht strafen! Auch jene Art der Strafbarkeit darf nicht geltend gemacht werden, als wenn hier Etwas nicht gethan, Etwas unterlassen, von der Vernunft nicht Gebrauch gemacht sei; denn unter allen Umständen geschah die Unterlassung ohne Absicht! und nur die absichtliche Unterlassung des Gebotenen gilt als strafbar. Der Verbrecher hat zwar die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen, aber ohne Grund und Absicht: er hat zwar seine Vernunft nicht angewendet, aber nicht, um sie nicht anzuwenden. Jene Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrecher macht, dass er seine Vernunft absichtlich verleugnet habe, — gerade sie ist bei der Annahme des „freien Willens“ aufgehoben. Ihr dürft nicht strafen, ihr Anhänger der Lehre vom „freien Willen“, nach euern eigenen Grundsätzen nicht! — Diese sind aber im Grunde Nichts, als eine sehr wunderliche Begriffs-Mythologie; und das Huhn, welches sie ausgebrütet hat, hat abseits von aller Wirklichkeit auf seinen Eiern gesessen.