Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-269]

Die Lebensalter

Die Vergleichung der vier Jahreszeiten mit den vier Lebensaltern ist eine ehrwürdige Albernheit. Weder die ersten zwanzig, noch die letzten zwanzig Jahre des Lebens entsprechen einer Jahreszeit: vorausgesetzt dass man sich bei der Vergleichung nicht mit dem Weiss des Haares und Schnees und mit ähnlichen Farbenspielen begnügt. Jene ersten zwanzig Jahre sind eine Vorbereitung auf das Leben überhaupt, auf das ganze Lebensjahr, als eine Art langen Neujahrstages; und die letzten zwanzig überschauen, verinnerlichen, bringen in Fug und Zusammenklang, was nur Alles vorher erlebt wurde: so wie man es, in kleinem Maasse, an jedem Sylvestertage mit dem ganzen verflossenen Jahre thut. Zwischen inne liegt aber in der That ein Zeitraum, welcher die Vergleichung mit den Jahreszeiten nahe legt: der Zeitraum vom zwanzigsten bis zum fünfzigsten Jahre (um hier einmal in Bausch und Bogen nach Jahrzehenden zu rechnen, während es sich von selber versteht, dass Jeder nach seiner Erfahrung diese groben Ansätze für sich verfeinern muss). Jene dreimal zehn Jahre entsprechen dreien Jahreszeiten: dem Sommer, dem Frühling und dem Herbste, — einen Winter hat das menschliche Leben nicht, es sei denn, dass man die leider nicht selten eingeflochtenen harten, kalten, einsamen, hoffnungsarmen, unfruchtbaren Krankheitszeiten die Winterzeiten des Menschen nennen will. Die zwanziger Jahre: heiss, lästig, gewitterhaft, üppig treibend, müde machend, Jahre, in denen man den Tag am Abend, wenn er zu Ende ist, preist und sich dabei die Stirn abwischt: Jahre, in denen die Arbeit uns hart, aber nothwendig dünkt, — diese zwanziger Jahre sind der Sommer des Lebens. Die dreissiger dagegen sind sein Frühling: die Luft bald zu warm, bald zu kalt, immer unruhig und anreizend, quellender Saft, Blätterfülle, Blüthenduft überall, viele bezaubernde Morgen und Nächte, die Arbeit, zu der der Vogelgesang uns weckt, eine rechte Herzensarbeit, eine Art Genuss der eigenen Rüstigkeit, verstärkt durch vorgeniessende Hoffnungen. Endlich die vierziger Jahre: geheimnissvoll, wie alles Stillestehende; einer hohen weiten Berg-Ebene gleichend, an der ein frischer Wind hinläuft; mit einem klaren wolkenlosen Himmel darüber, welcher den Tag über und in die Nächte hinein immer mit der gleichen Sanftmuth blickt: die Zeit der Ernte und der herzlichsten Heiterkeit, — es ist der Herbst des Lebens.