Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-279]

Der Hemmschuh der Cultur

Wenn wir hören: dort haben die Männer nicht Zeit zu den productiven Geschäften; Waffenübungen und Umzüge nehmen ihnen den Tag weg, und die übrige Bevölkerung muss sie ernähren und kleiden, ihre Tracht aber ist auffallend, oftmals bunt und voll Narrheiten; dort sind nur wenige unterscheidende Eigenschaften anerkannt, die Einzelnen gleichen einander mehr als anderwärts, oder werden doch als Gleiche behandelt; dort verlangt und giebt man Gehorsam ohne Verständniss: man befiehlt, aber man hütet sich, zu überzeugen; dort sind die Strafen wenige, diese wenigen aber sind hart und gehen schnell zum Letzten, Fürchterlichsten; dort gilt der Verrath als das grösste Verbrechen, schon die Kritik der Uebelstände wird nur von den Muthigsten gewagt; dort ist ein Menschenleben wohlfeil, und der Ehrgeiz nimmt häufig die Form an, dass er das Leben in Gefahr bringt; — wer diess Alles hört, wird sofort sagen: „es ist das Bild einer barbarischen, in Gefahr schwebenden Gesellschaft.“ Vielleicht dass der Eine hinzufügt: „es ist die Schilderung Sparta’s“; ein Anderer wird aber nachdenklich werden und vermeinen, es sei unser modernes Militärwesen beschrieben, wie es inmitten unsrer andersartigen Cultur und Societät dasteht, als ein lebendiger Anachronismus, als das Bild, wie gesagt, einer barbarischen, in Gefahr schwebenden Gesellschaft, als ein posthumes Werk der Vergangenheit, welches für die Räder der Gegenwart nur den Werth eines Hemmschuhes haben kann. — Mitunter thut aber auch ein Hemmschuh der Cultur auf das Höchste noth: wenn es nämlich zu schnell bergab oder, wie in diesem Falle vielleicht, bergauf geht.