[MA-WS-69]
Habituelle Scham
Warum empfinden wir Scham, wenn uns etwas Gutes und Auszeichnendes erwiesen wird, das wir, wie man sagt, „nicht verdient haben“? Es scheint uns dabei, dass wir uns in ein Gebiet eingedrängt haben, wo wir nicht hingehören, wo wir ausgeschlossen sein sollten, gleichsam in ein Heiliges oder Allerheiligstes, welches für unsern Fuss unbetretbar ist. Durch den Irrthum Anderer sind wir doch hineingelangt: und nun überwältigt uns theils Furcht, theils Ehrfurcht, theils Ueberraschung, wir wissen nicht, ob wir fliehen, ob wir des gesegneten Augenblickes und seiner Gnaden-Vortheile geniessen sollen. Bei aller Scham ist ein Mysterium, welches durch uns entweiht oder in der Gefahr der Entweihung zu sein scheint; alle Gnade erzeugt Scham. — Erwägt man aber, dass wir überhaupt niemals Etwas „verdient haben“, so wird, im Fall man dieser Ansicht innerhalb einer christlichen Gesammt-Betrachtung der Dinge sich hingiebt, das Gefühl der Scham habituell: weil einem Solchen Gott fortwährend zu segnen und Gnade zu üben scheint. Abgesehen von dieser christlichen Auslegung, wäre aber auch für den völlig gottlosen Weisen, der an der gründlichen Unverantwortlichkeit und Unverdienstlichkeit alles Wirkens und Wesens festhält, jener Zustand der habituellen Scham möglich: wenn man ihn behandelt, als ob er diess und jenes verdient habe, so scheint er sich in eine höhere Ordnung von Wesen eingedrängt zu haben, welche überhaupt Etwas verdienen, welche frei sind und ihres eigenen Wollens und Könnens Verantwortung wirklich zu tragen vermögen. Wer zu ihm sagt „du hast es verdient“, scheint ihm zuzurufen „du bist kein Mensch, sondern ein Gott“.