Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-9]

Wo die Lehre von der Freiheit des Willens entstanden ist

Ueber dem Einen steht die Nothwendigkeit in der Gestalt seiner Leidenschaften, über dem Andern als Gewohnheit zu hören und zu gehorchen, über dem Dritten als logisches Gewissen, über dem Vierten als Laune und muthwilliges Behagen an Seitensprüngen. Von diesen Vieren wird aber gerade da die Freiheit ihres Willens gesucht, wo Jeder von ihnen am festesten gebunden ist: es ist, als ob der Seidenwurm die Freiheit seines Willens gerade im Spinnen suchte. Woher kommt diess? Ersichtlich daher, dass Jeder sich dort am meisten für frei hält, wo sein Lebensgefühl am grössten ist, also, wie gesagt, bald in der Leidenschaft, bald in der Pflicht, bald in der Erkenntniss, bald im Muthwillen. Das, wodurch der einzelne Mensch stark ist, worin er sich belebt fühlt, meint er unwillkürlich, müsse auch immer das Element seiner Freiheit sein: er rechnet Abhängigkeit und Stumpfsinn, Unabhängigkeit und Lebensgefühl als nothwendige Paare zusammen. — Hier wird eine Erfahrung, die der Mensch im gesellschaftlich-politischen Gebiete gemacht hat, fälschlich auf das allerletzte metaphysische Gebiet übertragen: dort ist der starke Mann auch der freie Mann, dort ist lebendiges Gefühl von Freud und Leid, Höhe des Hoffens, Künheit des Begehrens, Mächtigkeit des Hassens das Zubehör der Herrschenden und Unabhängigen, während der Unterworfene, der Sclave, gedrückt und stumpf lebt. — Die Lehre von der Freiheit des Willens ist eine Erfindung herrschender Stände.