[JGB-188]
Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück...
Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die „Natur“, auch gegen die „Vernunft“: das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müsste denn selbst schon wieder von irgend einer Moral aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, dass sie ein langer Zwang ist: um den Stoicismus oder Port-Royal oder das Puritanerthum zu verstehen, mag man sich des Zwangs erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht, — des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wie viel Noth haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht! — einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein unerbittliches Gewissen wohnt — „um einer Thorheit willen“, wie utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, — „aus Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze“, wie die Anarchisten sagen, die sich damit „frei“, selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und Überreden, in den Künsten ebenso wie in den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der „Tyrannei solcher Willkür-Gesetze“ entwickelt hat; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies „Natur“ und „natürlich“ sei — und nicht jenes laisser aller! Jeder Künstler weiss, wie fern vom Gefühl des Sich-gehen-lassens sein „natürlichster“ Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der „Inspiration“, — und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulirung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes, Vielfaches, Vieldeutiges —). Das Wesentliche, „im Himmel und auf Erden“, wie es scheint, ist, nochmals gesagt, dass lange und in Einer Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer Etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, — irgend etwas Verklärendes, Raffinirtes, Tolles und Göttliches. Die lange Unfreiheit des Geistes, der misstrauische Zwang in der Mittheilbarkeit der Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, Alles, was geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott noch in jedem Zufalle wieder zu entdecken und zu rechtfertigen, — all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte, Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt, durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde: zugegeben, dass dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist erdrückt, erstickt und verdorben werden musste (denn hier wie überall zeigt sich „die Natur“, wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und gleichgültigen Grossartigkeit, welche empört, aber vornehm ist). Dass Jahrtausende lang die europäischen Denker nur dachten, um Etwas zu beweisen — heute ist uns umgekehrt jeder Denker verdächtig, der „Etwas beweisen will“ —, dass ihnen bereits immer feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen sollte, etwa wie ehemals bei der asiatischen Astrologie oder wie heute noch bei der harmlosen christlich-moralischen Auslegung der nächsten persönlichen Ereignisse „zu Ehren Gottes“ und „zum Heil der Seele“: — diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit hat den Geist erzogen; die Sklaverei ist, wie es scheint, im gröberen und feineren Verstande das unentbehrliche Mittel auch der geistigen Zucht und Züchtung. Man mag jede Moral darauf hin ansehn: die „Natur“ in ihr ist es, welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten, nach nächsten Aufgaben pflanzt, — welche die Verengerung der Perspektive, und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und Wachsthums-Bedingung lehrt. „Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst“ — dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein, welcher freilich weder „kategorisch“ ist, wie es der alte Kant von ihm verlangte (daher das „sonst“ —), noch an den Einzelnen sich wendet (was liegt ihr am Einzelnen!), wohl aber an Völker, Rassen, Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier „Mensch“, an den Menschen.