Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[JGB-189]

Die arbeitsamen Rassen finden eine grosse Beschwerde...

Die arbeitsamen Rassen finden eine grosse Beschwerde darin, den Müssiggang zu ertragen: es war ein Meisterstück des englischen Instinktes, den Sonntag in dem Maasse zu heiligen und zu langweiligen, dass der Engländer dabei wieder unvermerkt nach seinem Wochen- und Werktage lüstern wird: — als eine Art klug erfundenen, klug eingeschalteten Fastens, wie dergleichen auch in der antiken Welt reichlich wahrzunehmen ist (wenn auch, wie billig bei südländischen Völkern, nicht gerade in Hinsicht auf Arbeit —). Es muss Fasten von vielerlei Art geben; und überall, wo mächtige Triebe und Gewohnheiten herrschen, haben die Gesetzgeber dafür zu sorgen, Schalttage einzuschieben, an denen solch ein Trieb in Ketten gelegt wird und wieder einmal hungern lernt. Von einem höheren Orte aus gesehn, erscheinen ganze Geschlechter und Zeitalter, wenn sie mit irgend einem moralischen Fanatismus behaftet auftreten, als solche eingelegte Zwangs- und Fastenzeiten, während welchen ein Trieb sich ducken und niederwerfen, aber auch sich reinigen und schärfen lernt; auch einzelne philosophische Sekten (zum Beispiel die Stoa inmitten der hellenistischen Cultur und ihrer mit aphrodisischen Düften überladenen und geil gewordenen Luft) erlauben eine derartige Auslegung. — Hiermit ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons gegeben, warum gerade in der christlichsten Periode Europa’s und überhaupt erst unter dem Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur Liebe (amour-passion) sublimirt hat.