Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-VM-169]

Kunstbedürfniss zweiten Ranges

Das Volk hat wohl Etwas von dem, was man Kunstbedürfniss nennen darf, aber es ist wenig und wohlfeil zu befriedigen. Im Grunde genügt hierfür der Abfall der Kunst: das soll man ehrlich sich eingestehen. Man erwäge doch nur zum Beispiel, an was für Melodien und Liedern jetzt unsere kraftvollsten, unverdorbensten, treuherzigsten Schichten der Bevölkerung ihre rechte Herzensfreude haben, man lebe unter Hirten, Sennen, Bauern, Jägern, Soldaten, Seeleuten und gebe sich die Antwort. Und wird nicht in der kleinen Stadt, gerade in den Häusern, welche der Sitz altvererbter Bürgertugend sind, jene allerschlechteste Musik geliebt, ja gehätschelt, welche überhaupt jetzt hervorgebracht wird? Wer von tieferem Bedürfnisse, von unausgefülltem Begehren nach Kunst in Beziehung auf das Volk, wie es ist, redet, der faselt oder schwindelt. Seid ehrlich! — Nur bei Ausnahme-Menschen giebt es jetzt ein Kunstbedürfniss in hohem Stile, — weil die Kunst überhaupt wieder einmal im Rückgange ist und die menschlichen Kräfte und Hoffnungen sich für eine Zeit auf andre Dinge geworfen haben. — Ausserdem, nämlich abseits vom Volke, besteht freilich noch ein breiteres, umfänglicheres Kunstbedürfniss, aber zweiten Ranges, in den höheren und höchsten Schichten der Gesellschaft: hier ist Etwas wie eine künstlerische Gemeinde, die es aufrichtig meint, möglich. Aber man sehe sich diese Elemente an! Es sind im Allgemeinen die feineren Unzufriedenen, die an sich zu keiner rechten Freude kommen: der Gebildete, der nicht frei genug geworden ist, um der Tröstungen der Religion entrathen zu können und doch ihre Oele nicht wohlriechend genug findet: der Halbedle, der zu schwach ist, den einen Grundfehler seines Lebens oder den schädlichen Hang seines Charakters zu brechen, durch heroisches Umkehren oder Verzichtleisten: der Reichbegabte, der zu vornehm von sich denkt, um durch bescheidene Thätigkeit zu nützen, und zu träge zur grossen und aufopfernden Arbeit ist: das Mädchen, welches sich keinen genügenden Kreis von Pflichten zu schaffen weiss: die Frau, die durch eine leichtsinnige oder frevelhafte Ehe sich band und nicht genug gebunden weiss: der Gelehrte, Arzt, Kaufmann, Beamte, der zu zeitig in das Einzelne eingekehrt, und seiner ganzen Natur niemals vollen Lauf gegönnt hat, dafür aber mit einem Wurm im Herzen seine immerhin tüchtige Arbeit thut: endlich alle unvollständigen Künstler — diess sind jetzt die noch wahrhaften Kunstbedürftigen! Und was begehren sie eigentlich von der Kunst? Sie soll ihnen für Stunden und Augenblicke das Unbehagen, die Langeweile, das halbschlechte Gewissen verscheuchen und womöglich den Fehler ihres Lebens und Charakters als Fehler des Welten-Schicksals in’s Grosse umdeuten — sehr verschieden von den Griechen, welche in ihrer Kunst das Aus- und Ueberströmen ihres eigenen Wohl- und Gesundseins empfanden und es liebten, ihre Vollkommenheit noch einmal ausser sich zu sehen: — sie führte der Selbstgenuss zur Kunst, diese unsere Zeitgenossen — der Selbstverdruss.