[MA-VM-170]
Die Deutschen im Theater
Das eigentliche Theatertalent der Deutschen war Kotzebue; er und seine Deutschen, die der höheren sowohl als die der mittleren Gesellschaft, gehörten nothwendig zusammen, und die Zeitgenossen hätten von ihm im Ernste sagen dürfen: „in ihm leben, weben und sind wir“. Hier war nichts Erzwungenes, Angebildetes, Halb- und Angeniessendes: was er wollte und konnte, wurde verstanden, ja bis jetzt ist der ehrliche Theater-Erfolg auf deutschen Bühnen im Besitze der verschämten oder unverschämten Erben Kotzebueischer Mittel und Wirkungen, namentlich so weit das Lustspiel noch in einiger Blüthe steht; woraus sich ergiebt, dass viel von dem damaligen Deutschthum, zumal abseits von der grossen Stadt, immer noch fortlebt. Gutmüthig, in kleinen Genüssen unenthaltsam, thränenlüstern, mit dem Wunsche, wenigstens im Theater sich der eingebornen pflichtstrengen Nüchternheit entschlagen zu dürfen und hier lächelnde, ja lachende Duldung zu üben, das Gute und das Mitleid verwechselnd und in Eins zusammenwerfend — wie es das Wesentliche der deutschen Sentimentalität ist —, überglücklich bei einer schönen, grossmüthigen Handlung, im Uebrigen unterwürfig nach Oben, neidisch gegen einander, und doch im Innersten sich selbst genügend — so waren sie, so war er. — Das zweite Theatertalent war Schiller: dieser entdeckte eine Classe von Zuhörern, welche bis dahin nicht in Betracht gekommen waren; er fand sie in den unreifen Lebensaltern, im deutschen Mädchen und Jüngling. Ihren höheren, edleren, stürmischeren, wenn auch unklareren Regungen, ihrer Lust am Klingklang sittlicher Worte (welche in den dreissiger Jahren des Lebens zu verschwinden pflegt) kam er mit seinen Dichtungen entgegen und errang sich dadurch, gemäss der Leidenschaftlichkeit und Parteisucht jener Altersclasse, einen Erfolg, der allmählich auch auf die reiferen Lebensalter mit Vortheil einwirkte: Schiller hat im Allgemeinen die Deutschen verjüngt. — Goethe stand über den Deutschen in jeder Beziehung und steht es auch jetzt noch: er wird ihnen nie angehören. Wie könnte auch je ein Volk der Goethischen Geistigkeit in Wohl-Sein und Wohl-Wollen gewachsen sein! Wie Beethoven über die Deutschen weg Musik machte, wie Schopenhauer über die Deutschen weg philosophirte, so dichtete Goethe seinen Tasso, seine Iphigenie über die Deutschen weg. Ihm folgte eine sehr kleine Schar Höchstgebildeter, durch Alterthum, Leben und Reisen Erzogener, über deutsches Wesen hinaus Gewachsener: — er selber wollte es nicht anders. — Als dann die Romantiker ihren zweckbewussten Goethe-Cultus aufrichteten, als ihre erstaunliche Kunstfertigkeit des Anschmeckens dann auf die Schüler Hegels, die eigentlichen Erzieher der Deutschen dieses Jahrhunderts, überging, als der erwachende nationale Ehrgeiz auch dem Ruhme der deutschen Dichter zu Gute kam und der eigentliche Maassstab des Volkes, ob es sich ehrlich an Etwas freuen könne, unerbittlich dem Urtheile der Einzelnen und jenem nationalen Ehrgeiz untergeordnet wurde — das heisst, als man anfing sich freuen zu müssen — da entstand jene Verlogenheit und Unächtheit der deutschen Bildung, welche sich Kotzebue’s schämte, welche Sophokles, Calderon und selbst Goethe’s Faust-Fortsetzung auf die Bühne brachte und welche ihrer belegten Zunge, ihres verschleimten Magens wegen, zuletzt nicht mehr weiss, was ihr schmeckt, was ihr langweilig ist. — Selig sind Die, welche Geschmack haben, wenn es auch ein schlechter Geschmack ist! — Und nicht nur selig, auch weise kann man nur vermöge dieser Eigenschaft werden: wesshalb die Griechen, die in solchen Dingen sehr fein waren, den Weisen mit einem Wort bezeichneten, das den Mann des Geschmacks bedeutet, und Weisheit, künstlerische sowohl wie erkennende, geradezu „Geschmack“ (Sophia) benannten.