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Die Musik als Spätling jeder Cultur
Die Musik kommt von allen Künsten, welche auf einem bestimmten Culturboden, unter bestimmten socialen und politischen Verhältnissen jedesmal aufzuwachsen pflegen, als die letzte aller Pflanzen zum Vorschein, im Herbst und Abblühen der zu ihr gehörenden Cultur: während gewöhnlich die ersten Boten und Anzeichen eines neuen Frühlings schon bemerkbar sind; ja mitunter läutet die Musik wie die Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt hinein und kommt zu spät. Erst in der Kunst der Niederländer Musiker fand die Seele des christlichen Mittelalters ihren vollen Klang: ihre Ton-Baukunst ist die nachgeborne, aber ächt- und ebenbürtige Schwester der Gothik. Erst in Händel’s Musik erklang das Beste von Luther’s und seiner Verwandten Seele, der grosse jüdisch-heroische Zug, welcher die ganze Reformations-Bewegung schuf. Erst Mozart gab dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten und der Kunst Racine’s und Claude Lorrain’s in klingendem Golde heraus. Erst in Beethoven’s und Rossini’s Musik sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhundert der Schwärmerei, der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glückes. So möchte denn ein Freund empfindsamer Gleichnisse sagen, jede wahrhaft bedeutende Musik sei Schwanengesang. — Die Musik ist eben nicht eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt: die Musik Palestrina’s würde für einen Griechen völlig unzugänglich sein, und wiederum — was würde Palestrina bei der Musik Rossini’s hören? — Vielleicht, dass auch unsere neueste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrschlustig ist, in kurzer Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer Cultur, die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist jene Reactions- und Restaurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser Katholicismus des Gefühls wie die Lust an allem heimisch-nationalen Wesen und Urwesen zur Blüthe kam und über Europa einen gemischten Duft ausgoss: welche beide Richtungen des Empfindens, in grösster Stärke erfasst und bis in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerischen Kunst zuletzt zum Erklingen gekommen sind. Wagner’s Aneignung der altheimischen Sagen, sein veredelndes Schalten und Walten unter deren so fremdartigen Göttern und Helden — welche eigentlich souveräne Raubthiere sind, mit Anwandlungen von Tiefsinn, Grossherzigkeit und Lebensüberdruss —, die Neubeseelung dieser Gestalten, denen er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit und Entsinnlichung dazugab, dieses ganze Wagnerische Nehmen und Geben in Hinsicht auf Stoffe, Seelen, Gestalten und Worte spricht deutlich auch den Geist seiner Musik aus, wenn diese, wie alle Musik, von sich selber nicht völlig unzweideutig zu reden vermöchte: dieser Geist führt den allerletzten Kriegs- und Reactionszug an gegen den Geist der Aufklärung, welcher aus dem vorigen Jahrhundert in dieses hineinwehte, eben so gegen die übernationalen Gedanken der französischen Umsturz-Schwärmerei und der englisch-amerikanischen Nüchternheit im Umbau von Staat und Gesellschaft. — Ist es aber nicht ersichtlich, dass die hier — bei Wagner selbst und seinem Anhange — noch zurückgedrängt erscheinenden Gedanken- und Empfindungskreise längst von Neuem wieder Gewalt bekommen haben, und dass jener späte musikalische Protest gegen sie zumeist in Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte Töne lieber hören? so dass eines Tages jene wunderbare und hohe Kunst ganz plötzlich unverständlich werden und sich Spinnweben und Vergessenheit über sie legen könnten. — Man darf sich über diese Sachlage nicht durch jene flüchtigen Schwankungen beirren lassen, welche als Reaction innerhalb der Reaction, als ein zeitweiliges Einsinken des Wellenbergs inmitten der gesammten Bewegung erscheinen; so mag dieses Jahrzehend der nationalen Kriege, des ultramontanen Martyriums und der socialistischen Beängstigung in seinen feineren Nachwirkungen auch der genannten Kunst zu einer plötzlichen Glorie verhelfen, — ohne ihr damit die Bürgschaft dafür zu geben, dass sie „Zukunft habe“, oder gar, dass sie die Zukunft habe. — Es liegt im Wesen der Musik, dass die Früchte ihrer grossen Cultur-Jahrgänge zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben, als die Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem Baume der Erkenntniss gewachsenen: unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns sind nämlich Gedanken das Dauerhafteste und Haltbarste.