Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-VM-174]

Gegen die Kunst der Kunstwerke

Die Kunst soll vor Allem und zuerst das Leben verschönern, also uns selber den Andern erträglich, womöglich angenehm machen: mit dieser Aufgabe vor Augen, mässigt sie und hält uns im Zaume, schafft Formen des Umgangs, bindet die Unerzogenen an Gesetze des Anstandes, der Reinlichkeit, der Höflichkeit, des Redens und Schweigens zur rechten Zeit. Sodann soll die Kunst alles Hässliche verbergen oder umdeuten, jenes Peinliche, Schreckliche, Ekelhafte, welches trotz allem Bemühen immer wieder, gemäss der Herkunft der menschlichen Natur, herausbrechen wird: sie soll so namentlich in Hinsicht auf die Leidenschaften und seelischen Schmerzen und Aengste verfahren und im unvermeidlich oder unüberwindlich Hässlichen das Bedeutende durchschimmern lassen. Nach dieser grossen, ja übergrossen Aufgabe der Kunst ist die sogenannte eigentliche Kunst, die der Kunstwerke, nur ein Anhängsel: ein Mensch, der einen Ueberschuss von solchen verschönernden, verbergenden und umdeutenden Kräften in sich fühlt, wird sich zuletzt noch in Kunstwerken dieses Ueberschusses zu entladen suchen; ebenso, unter besondern Umständen, ein ganzes Volk. — Aber gewöhnlich fängt man jetzt die Kunst am Ende an, hängt sich an ihren Schweif und meint, die Kunst der Kunstwerke sei das Eigentliche, von ihr aus solle das Leben verbessert und umgewandelt werden — wir Thoren! Wenn wir die Mahlzeit mit dem Nachtisch beginnen und Süssigkeiten über Süssigkeiten kosten, was Wunders, wenn wir uns den Magen und selbst den Appetit für die gute, kräftige, nährende Mahlzeit, zu der uns die Kunst einladet, verderben!