Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-125]

Giebt es „deutsche Classiker“? — Sainte-Beuve bemerkt...

Giebt es „deutsche Classiker“? — Sainte-Beuve bemerkt einmal, dass zu der Art einiger Litteraturen das Wort „Classiker“ durchaus nicht klingen wolle: wer werde zum Beispiel so leicht von „deutschen Classikern“ reden! — Was sagen unsre deutschen Buchhändler dazu, welche auf dem Wege sind, die fünfzig deutschen Classiker, an die wir schon glauben sollen, noch um weitere fünfzig zu vermehren? Scheint es doch fast, als ob man eben nur dreissig Jahre lang todt zu sein und als erlaubte Beute öffentlich da zu liegen brauche, um unversehens plötzlich als Classiker die Trompete der Auferstehung zu hören! Und diess in einer Zeit und unter einem Volke, wo selbst von den sechs grossen Stammvätern der Litteratur fünf unzweideutig veralten oder veraltet sind, — ohne dass diese Zeit und dieses Volk sich gerade dessen zu schämen hätten! Denn jene sind vor den Stärken dieser Zeit zurückgewichen, — man überlege es sich nur mit aller Billigkeit! — Von Goethe, wie angedeutet, sehe ich ab, er gehört in eine höhere Gattung von Litteraturen, als „National-Litteraturen“ sind: desshalb steht er auch zu seiner Nation weder im Verhältniss des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. Nur für Wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die Meisten ist er Nichts, als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Gränze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und grosser Mensch, sondern eine Cultur, Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre im Stande, in der deutschen Politik der letzten siebenzig Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen! (während jedenfalls darin ein Stück Schiller, und vielleicht sogar ein Stückchen Lessing thätig gewesen ist). Aber jene andern Fünf! Klopstock veraltete schon bei Lebzeiten auf eine sehr ehrwürdige Weise: und so gründlich, dass das nachdenkliche Buch seiner späteren Jahre, die Gelehrten-Republik, wohl bis heutigen Tag von Niemandem ernst genommen worden ist. Herder hatte das Unglück, dass seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; für die feineren und stärkeren Köpfe (wie für Lichtenberg) war zum Beispiel selbst Herder’s Hauptwerk, seine Ideen zur Geschichte der Menschheit, sofort beim Erscheinen etwas Veraltetes. Wieland, der reichlich gelebt und zu leben gegeben hat, kam als ein kluger Mann dem Schwinden seines Einflusses durch den Tod zuvor. Lessing lebt vielleicht heute noch, — aber unter jungen und immer jüngeren Gelehrten! Und Schiller ist jetzt aus den Händen der Jünglinge in die der Knaben, aller deutschen Knaben gerathen! Es ist ja eine bekannte Art des Veraltens, dass ein Buch zu immer unreiferen Lebensaltern hinabsteigt. — Und was hat diese Fünf zurückgedrängt, sodass gut unterrichtete und arbeitsame Männer sie nicht mehr lesen? Der bessere Geschmack, das bessere Wissen, die bessere Achtung vor dem Wahren und Wirklichen; also lauter Tugenden, welche gerade durch jene Fünf (und durch zehn und zwanzig Andere weniger lauten Namens) erst wieder in Deutschland angepflanzt worden sind, und welche jetzt als hoher Wald über ihren Gräbern neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten der Vergessenheit breiten. — Aber Classiker sind nicht Anpflanzer von intellectuellen und litterarischen Tugenden, sondern Vollender und höchste Lichtspitzen derselben, welche über den Völkern stehen bleiben, wenn diese selber zu Grunde gehen: denn sie sind leichter, freier, reiner als sie. Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreissig sehr alten, nie veralteten Büchern lebt: in den Classikern.